Mondtaenzerin
Aufmachung, die sie im Licht der Scheinwerfer groß und gebieterisch wirken ließ. Ich sah ihre Augen, diese dunklen Quellen, aus denen so viel Feuer zu uns geflossen war; sie leuchteten fast orangerot. Ich musste mich erst langsam daran gewöhnen, dass diese Erscheinung wirklich Viviane war. Auch wie sie sang, war ungewöhnlich. Einzelne Worte, eine Art Gestammel, aber mit viel Musik darin. Ab und zu fiel mir auf, dass ihre Stimme leicht zitterte, als ob sie mit all ihren Gedanken mehr bei sich selbst war als beim Publikum, und trotzdem blieben alle bis zum letzten Ton in ihrem Bann.
Nach dem Konzert fuhren wir zu ihrem Haus, das bis zu seinem Tod ihrem Großvater gehört hatte. Ich entsinne mich noch gut, wie sie ihren Range Rover im Londoner Verkehr steuerte, in der Dunkelheit, durch blinkende Punkte, leuchtende Tropfen, im Gespräch mit mir und gleichzeitig aufmerksam und traumwandlerisch sicher im prasselnden Herbstregen.
Viviane fuhr mit leicht erhobenem Kopf, eine Haltung, die ihren zierlichen, schlanken Hals zur Geltung brachte. Worüber hatten wir geredet? Über ihren Führerschein zunächst. Der Wagen hatte ihrem Großvater gehört. Für Viviane war es schwierig gewesen, zur Fahrprüfung überhaupt zugelassen zu werden. Sie hatte ein ärztliches Attest vorweisen müssen. Tatsache war, dass ihre Anfälle, entgegen der Behauptung ihres früheren Arztes, noch dann und wann auftraten.
»Die Franzosen nennen es ›le haut mal‹, ›das hohe Leiden‹«,
sagte Viviane. »Weil ihre Könige oft davon betroffen waren. Warum schaust du mich so an?«
»Vielleicht solltest du dir etwas darauf einbilden?«
Die Spur eines Lächelns zuckte um ihren Mund.
»Das tu ich auch. Und mit den richtigen Medikamenten ist es o.k. Ich habe gelernt, das zu kontrollieren. Aber am Steuer bin ich immer vorsichtig. Es ist wegen der Unfälle. Du weißt, dass ich immer Angst habe.«
»Ja, schon lange«, sagte ich.
»Jetzt ist mir immerhin klar, woher das kommt. Grandpa hat mir alles erzählt.«
Ihr Profil hob sich dunkel von der gedämpften Helligkeit des Fensters ab. Von dem Gesicht selbst war so gut wie nichts zu sehen. Nur eben der Umriss des Profils, diese klare, scharfe Linie, die an der Schläfe begann und sich voller Anmut zum Kinn rundete. In dem purpurnen Haar fing sich noch so viel Dämmerung, dass sich so etwas wie ein ganz schwacher Schein über ihrem Kopf zeigte, husch, husch, kommend und gehend im zuckenden Glanz der Scheinwerfer. Es war ein Profil wie aus einer alten Zeit, voller Harmonie, ernst, anmutig und geheimnisvoll, ein Kunstwerk, das sich mit jedem Mienenspiel veränderte und gar nicht zu der jungen Frau passte, die sich eine Stunde zuvor in ekstatischem Rhythmus auf der Bühne bewegt hatte. Aber das war eben Viviane.
Danach sprachen wir über Giovanni. Ich merkte verärgert, wie mir die Tränen kamen, und murmelte:
»Tut mir leid, ich habe mich erkältet!«
Ich wühlte nach einem Taschentuch, das ich nicht hatte. Viviane zauberte ein Kleenex hervor.
»Putz dir die Nase!«
Ich schnäuzte mich. Viviane wartete, bis eine Ampel grün wurde, und setzte, bevor sie weitersprach, ihren Wagen behutsam in Bewegung.
»Der arme Giovanni! Die Bedrohung war so unheimlich
vorhersehbar. Ich konnte sie fühlen, sie geradezu riechen. Wenn man wie ich ist, muss man sehr aufpassen, dass man sich nichts einbildet. Und gut unterscheiden: Was stimmt, was stimmt nicht? Weißt du, ich vergesse oft; ich vergesse, was ich gesehen und gehört habe, tagsüber oder im Traum. Es wäre im Grunde ganz einfach gewesen, Giovanni zu warnen. Aber ich konnte nicht nachdenken, das war mein Problem. Aber damals hatte ich zu viel im Kopf! Ich wollte nach London, erinnerst du dich? Grandpa hatte mir den Flugschein besorgt, und Miranda wollte mich nicht gehen lassen. Sie hatte Angst, dass ich von Grandpa die Wahrheit erfuhr.«
»Ja«, sagte ich matt, »ich entsinne mich.«
Mühsam glitt ich in die Erinnerung zurück. Da war irgendeine schlimme Geschichte gewesen, die Miranda betraf. Viviane hatte Andeutungen gemacht, aber nichts Genaues erzählt. Ich hatte vergeblich versucht, mehr zu erfahren. Wie es schien, hatte der Großvater Viviane verboten, darüber zu reden. Noch heute fühlte sie sich offenbar an eine Art kindlichen Ehrenstandpunkt gebunden. Na gut, was ging es mich an? Familiengeheimnisse sind eine sehr persönliche Sache. Mit halbem Ohr hörte ich zu, wie Viviane weitersprach:
»Aber Grandpa hatte mir ja schon alles erzählt, als
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