Mondtaenzerin
Finger an. »Du wirst Tierarzt, nicht Analytiker. Nein, es ist nicht zum Lachen.«
»Ich lache nicht.«
Peters kleines Lächeln verschwand.
»Ich könnte dir sagen, dass jeder normale Säugling eine ganze Skala von Symptomen durchmacht, bevor er lernt, zwischen Fantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden.«
Ich schlug eine Mücke auf meinem Arm tot.
»Was meinst du damit? Dass Viviane es nie gelernt hat?«
»Doch. Aber sie will es sich nicht abgewöhnen. Als ob sie es manchmal vorzöge, logische Denkvorgänge zu ignorieren.«
Ich hob rasch den Kopf. »Du, Peter, sie erzählt keinen Unsinn, glaube das ja nicht. Man kann fühlen, dass sie von Dingen spricht, die für sie persönlich völlig klar sind.«
»Für sie. Aber nicht für uns.«
»Das war schon immer so. Mensch, Peter, erinnere dich! Wir kamen da einfach nicht mit. Nein, nein, Vivi ist nicht verrückt, sondern erschreckend intelligent. Wenn jemand eine Meise hat, dann Miranda. Vivi finde ich sogar recht vernünftig.«
»Über Vernunft lässt sich streiten«, Peter seufzte. »Jedenfalls hat sie mit uns gemacht, was sie wollte.«
Peter und ich hatten nicht überlegt, wohin das Gespräch uns führen würde. Zwischen dem Damals und den beiden jungen Leuten auf dem Fahrrad lagen viele Jahre, sodass wir unsere Gefühlsregungen sehr sachlich einschätzten. Wir waren schließlich alt genug dafür. Wir hatten Distanz. Und vielleicht war Rügen, so weit entfernt von Malta, genau der richtige Ort dazu.
»Das Leben schenkt uns viele einsame Augenblicke.« Peter sah zum Himmel empor, der sich rosa und blass über den Baumwipfeln wölbte. »Und rückblickend hat uns Vivi sehr gutgetan.«
»In welcher Hinsicht eigentlich?«
Er lächelte mit einer Melancholie, die tief aus seinem Inneren kam.
»Wir sind Freunde geworden. Echte Freunde. Mit ihren Tricks hat sie das immerhin fertig gebracht.«
13. Kapitel
I m Grunde beruht Vertrauen auf Selbstachtung. Die Kunst, den Menschen gegenüber nicht zu versagen, zeigt sich meistens in einer Bewährungsprobe. Auch wir mussten da durch. Nicht, dass das Leben für uns leichter davon wurde, ganz im Gegenteil. Aber wir wurden gekennzeichnet, geprägt von jener Eigenschaft, die man Selbstlosigkeit nennt und die bei Kindern, die von Natur aus egoistisch sind, selten vorkommt. Ja, es war Vivi gewesen, die aus uns kleine Krieger gemacht hatte, großzügig und mutig, mit einem sensiblen Herzen. Vivi stand immer im Zentrum, wie ein Fixstern. Giovanni bewegte sich am Rand, ein unerforschter Planet. Ob er sich damals noch fremd bei uns fühlte? Heute kommt es mir so vor. Giovanni war jemand, der nur zögernd Freundschaft schloss, an jeder Zuneigung zweifelte. Es mochte ja sein, dass sein Misstrauen ihn nie ganz verlassen hatte. Bis jenes Ereignis eintrat, das, so unheimlich und brutal es auch war, jede eingefleischte Angst in ihm ausmerzte.
Das war mitten in den Sommerferien gewesen. Es war eine merkwürdige Geschichte, sowohl was den äußeren Anlass betraf als auch hinsichtlich der Art, wie wir reagierten. Vorbildlich, wurde uns gesagt, als es uns besser ging. Dass wir eine Bewährungsprobe durchgemacht hatten, kam uns erst viel später in den Sinn. Wir hatten eine Mauer durchdrungen, eine Grenze überschritten. Für uns alle war es eine ungeheuerliche Zäsur, der Beginn der Verantwortung. Und abends im Bett versank unsere Seele in Verwirrung.
Die Geschichte kann ich allein so erzählen. Wie Peter und Vivi sie erlebten, kann ich nicht genau sagen. Und auch Giovanni, der im Krankenhaus lag, mochte sich ganz anders erinnern. Jeder von uns erlebte die Wirklichkeit auf seine besondere Art, die sie vielleicht entstellte. Ich wollte nicht die Welt verändern wie Peter oder mir Dinge einbilden wie Vivi. Ich war schon damals praktisch veranlagt. Beim Träumen hatte ich stets die gleichen Bilder vor Augen; sie waren gewiss nicht falsch, weil die Tatsachen stimmten. Meine Albträume waren wie schlechte Filme, aber rational.
An dieser Stelle muss ich auf Maltas besonderes Merkmal zurückkommen, die unterirdischen Brunnen. Viele der alten Häuser verfügen noch heute über solche Zisternen, in denen sich das Grundwasser ansammelt und die in Belagerungs- und Kriegszeiten für die Bevölkerung wesentlich waren. Auch der Brunnen in der Nekropole war in Gebrauch, bis der Zugang verschlossen wurde. An die Knochenreste hatten wir uns längst gewöhnt, während uns die Zisterne nach wie vor beunruhigte. Die Kammer, in der sie sich befand, war
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