Mondtaenzerin
den Atem ein.
»Schrei doch nicht so!«, zischte sie. »Wir sind hier bei den Toten!«
Peter und ich trugen viel Sinn für das Nacherleben der Dinge in uns, für dieses Weiterleben über die Zeiten, das Ausharren der Erinnerungen. Im Gedächtnis gibt es immer etwas Niederblitzendes, Neues. Denn die Erinnerung hat
niemals ihre alte, gewohnte Gestalt. Wir verändern uns, die Erinnerung verändert sich mit uns. Lassen wir die Vergangenheit wiederkehren, sehen wir sie nicht ganz so, wie sie vormals war. Aber es gibt bestimmte Sachen, an die wir uns deutlich erinnern. Zum Beispiel, dass im unterirdischen Heiligtum die Luft nicht kalt war, sondern drückend und warm. Dass auch keine nachtschwarze Dunkelheit herrschte. Aus Spalten und Löchern drang Tageslicht, das mit der Sonne wanderte. Heute weiß man, dass der Tempel viel älter ist als die Toten, die dort – gekrümmt oder in Hockstellung – ihre letzte Ruhestätte fanden. Auch jetzt, als Peter und ich darüber sprachen, zuckten in unseren Köpfen die erlebten Szenen auf; wir waren wieder in den Grabkammern, in denen es feucht und modrig roch und Wassertropfen in die Zisterne plätscherten, während wir ganz deutlich Vivis Stimme hörten:
»Was sollen wir jetzt machen? Sie ist böse!«
Peter und ich entsannen uns genau, wie betreten wir dastanden. Wer war böse? Vivi oder ihre tätowierte Göttin? Allmählich kamen wir zu der Überzeugung, dass zwischen Vivi und ihrem Hirngespinst kein Unterschied bestand. Ihre Pupillen hatten einen seltsamen, verschleierten Glanz. Als ob die Gestalt, die wir selbst nicht sehen konnten, in der Welt dicht hinter ihren Augen schwebte.
»Wir müssen jetzt schwören«, sagte sie feierlich. »Anders geht es nicht. Los, wir müssen einen Kreis bilden.«
Vivis Gedanken waren immer aktiv und unermüdlich. Und dass sie jetzt ein Ritual verlangte, gefiel uns. Nach Kinderart waren wir sofort mit Begeisterung dabei, als Vivi nun befahl, die Taschenlampe auf den Boden zu legen. Peter tat, was sie wollte. Wir stellten uns im Kreis, die Taschenlampe in der Mitte, und fassten uns an den Händen, während die Taschenlampe zu unseren Füßen eine Art Strahlenkranz bildete. Vivis Stimme klang wieder vollkommen ruhig. Nur ihre Augen
wanderten umher, als ob die Worte irgendwo in der dunklen Luft standen, für uns unsichtbar, für Vivi aber so klar wie gedruckt in einem aufgeschlagenen Buch. Sie brauchte sie nur abzulesen.
»Von jetzt an sind wir Geschwister. Wir teilen alles miteinander. Wir werden immer die Wahrheit sagen, keiner darf den anderen anlügen. Jetzt nicht und auch in der Schule nicht. Und auch später nicht, wenn wir große Leute sind.«
Ihre Rede war Punkt für Punkt ausgearbeitet. So verwildert Vivi auch war – sie hatte gelernt, sich gut auszudrücken. Zu Lebzeiten von Alexis hatte die Pension noch ihre Stammgäste, die Jahr für Jahr das gleiche Zimmer haben wollten. Ein interessanter, bisweilen fragwürdiger Mikrokosmos: mehr oder weniger bekannte Songwriter, Tantra-Psychologen, Möchtegerne-Gurus, Soziologen. Dazu kamen die üblichen Rucksacktouristen, Studenten zumeist, die mit wenig Geld weit reisen wollten. Peter und ich hatten von solchen Leuten wenig Ahnung, auch wenn wir sie oft im Garten der Pension Xlendi um den großen Tisch sitzen sahen, wo sie geschmorten Tintenfisch verzehrten, »Kinnies« tranken und intensiv theoretisierten. Das Ganze sah trotz Mirandas Irokesenkamm recht idyllisch aus. Während Alexis am Grill stand und Miranda mit wippender Haarpracht servierte, tänzelte Vivi wie ein Insekt herum, schillernd und beweglich und leise summend, und dabei so unaufdringlich, dass man sie kaum beachtete. Sie hatte keinen Platz bei Tisch – der Tisch war nur für die Gäste bestimmt –, aber sie grapschte sich verstohlen etwas zu essen und sah und hörte alles. Peter und ich waren behütete Kinder, unwissend, naiv und Vivi in keiner Weise gewachsen. Sie wusste etwas, was Peter und ich noch nicht wussten: Sie wusste Bescheid mit den Menschen. Dieses Wissen trug sie überheblich zur Schau, konnte sich ebenso in nuschelnden Selbstgesprächen verlieren wie hemmungslos fluchen, je nach Laune sich balgen oder sich hochanständig benehmen. Sie hatte auch gelernt,
wie eine Erwachsene zu reden – es hörte sich manchmal komisch an, aber nicht immer –, und jetzt gab sie uns ein Meisterstück ihrer Dramaturgie, während Giovanni sie fassungslos anstarrte und seine Hand in der meinen vor Aufregung zitterte.
»Vergessen wir
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