Mondtaenzerin
nicht ganz dunkel; aus einer Öffnung oberhalb der Felswand fiel Tageslicht, und zwar so, dass es genau den Brunnenschacht beleuchtete. Beugten wir uns über den Rand, konnten wir glauben, das Wasser unten sei hart wie Glas und von eigenartiger, smaragdgrüner Farbe. Überall war die Luft warm, nur hier stieg es wie kalter, fauliger Atem empor, als ob das Erdinnere lebte. Durch die glänzende Oberfläche, die jedes Bild zurückwarf wie ein Spiegel, konnte man genauso wenig sehen wie durch die Oberfläche eines Spiegels. Was darunter war, konnte man nur ahnen. Riefen wir »Hallo!« hinunter, prallte der Ruf von einer Wand zur anderen, sodass der Felsen zu schwingen schien.
»Ob das Wasser wohl tief ist?«, hatte ich an jenem Tag gefragt, als es passierte.
Peter behauptete es. Giovanni wollte es genau wissen.
»Wie tief?«
»Mal sehen«, antwortete Peter.
Er nahm einen Stein, warf ihn ins Wasser und löste damit ein dumpfes Plätschern aus. Wir fröstelten. Im unterirdischen Bereich hatten sich Steigrohre gebildet, die immer wieder frisches Wasser in die Zisterne drückten. Allerdings vergrößerte sich Valletta, es wurde viel gebaut, und das Grundwasser war gesunken.
»Früher war der Brunnen tiefer«, murmelte Vivi. Sie machte ein starres Gesicht. »Sie warfen Schmuck hinein, und manchmal auch …« Sie stockte verwirrt.
»Was denn?«, fragte ich. »Was warfen sie hinein?«
»Kinder«, sagte sie.
Giovanni bekreuzigte sich und murmelte: »Jesus!«
»Menschenopfer?«, fragte Peter mit einer Art von angeregtem Schaudern. Vivi rieb sich die Augen.
»Mein Kopf schmerzt«, murmelte sie, worauf wir wissende Blicke tauschten. Vivis Kopfschmerzen waren für uns ein altes Lied. Inzwischen runzelte sie die Stirn und sprach weiter.
»Wenn lange kein Regen fiel, nur dann. Aber die Kinder, die schliefen ja. Sie hatten vorher Dope geschluckt, so kleine Kugeln, die man zwischen den Fingern rollte. Ein Junge und ein Mädchen, immer zusammen. Keine Geschwister, nein, die Familie hätte zu sehr gelitten. Man steckte den Kindern eine Münze in den Mund, warf sie in den Brunnen, in ihren schönsten Kleidern und mit Blumen bekränzt. Vorher hatte man ihnen gesagt, ihr geht jetzt zu der Göttin und bringt ihr eine Botschaft. Weil die Göttin ja Tausende von Kindern hat und ein jedes von ihnen kennt. Die Kinder freuten sich. Unter Wasser war nämlich eine Stadt mit hohen Mauern und Palästen, die wie Gold glänzten. Hier wurden die Kinder wieder lebendig und liefen über eine breite Treppe in das Gemach der Göttin. Die Wände zeigten, kunstvoll in Schmelzglas gearbeitet, Seesterne und spielende Delfine. Die Göttin, mit einem
goldenen Kopfschmuck gekrönt, war in einen Schleier aus Muschelseide gehüllt und saß auf einem Thron aus Alabaster. Ihr Gesicht, das elfenbeinfarben schimmerte, war mit roten Spiralen bemalt. Sie lächelte gütig, als die Kinder ihr von der Not ihrer Eltern erzählten. Weil sie Mitleid mit den Menschen hatte, hob sie ihren Schleier und schüttelte ihn, und aus dem Schleier wurden Wolken, die Regen brachten und die Felder wieder fruchtbar machten. Dann nahm die Göttin beide Kinder an der Hand und führte sie in Gärten voller Schmetterlinge und Vögel, voller Blumen und Früchte, Weintrauben, Aprikosen und Holunder, wo andere Kinder sie jubelnd begrüßten. Hier spielten sie den ganzen Tag, viele Tausend Jahre lang, und wurden nie krank oder müde. Weil sie so jung zu der Göttin gegangen waren, sagte ihnen keiner, sie sollten erwachsen werden.«
Es waren keine Gute-Nacht-Geschichten, die Vivi uns auftischte. Ihre permanent wilden Träume schienen sich nach einiger Zeit in Albträume zu verwandeln. Wir hatten das allmählich satt.
»Ach, geh weg mit deinen Schauermärchen«, sagte ich. Sie antwortete ganz sachlich: »Ich erzähle ja nur, was sie gemacht haben.«
»Kinder geopfert? Jetzt übertreibst du aber! Woher willst du das wissen?«
Vivi drehte den Kopf, bis ich nur ihren schmalen Nacken vor mir hatte.
»Ich weiß es eben«, hörte ich sie sagen. »Und die Geschichte, die haben sie den Kindern erzählt, damit sie keine Angst hatten.«
Vivi war es mal wieder gelungen, uns in ihren Bann zu schlagen.
»Ja, ja, reite bloß nicht drauf herum!«, gab ich zurück auf die Gefahr hin, dass sie mir eine knallte, aber sie rührte sich nicht. Es kam immer darauf an, in welcher Stimmung sie war.
Inzwischen beugten sich Peter und Giovanni über den Rand der Zisterne. Die schwarze Fläche war
Weitere Kostenlose Bücher