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Mondtaenzerin

Mondtaenzerin

Titel: Mondtaenzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederica de Cesco
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Der will uns ja bloß Angst machen.«
    Mutter fragte streng, was ihre Eltern wohl dazu sagen würden. Vivi verrenkte leicht den Hals und schielte unter ihren feuchten Haaren an ihr vorbei.
    »Ich bin doch nicht so blöd und erzähle ihnen das!«
    Als Vivi gegangen war, schimpften meine Eltern auf sie. Beide hatten einen gehörigen Schock erlitten und teilten nicht Dr. Micalefs Meinung. Sie glaubten vielmehr, dass es
Vivi gewesen war, die uns zu diesem Abenteuer verleitet hatte. Das Ausmaß der Gefahr, der wir mit knapper Not entkommen waren, wurde mir erst allmählich bewusst. In dieser Nacht konnte ich nur weinen. Immer wieder erlebte ich den furchtbaren Augenblick, als das kalte Wasser über mir zusammenschlug und ich Giovannis leblosen Körper zu fassen versuchte, der unentwegt meinen steifen Armen entglitt. Ich machte mir entsetzliche Sorgen um ihn. Am Morgen bettelte und flehte ich so lange, bis Mutter im Krankenhaus anrief. Der Junge sei auf die chirurgische Abteilung gekommen, hieß es. »Warum?«, fragte Mutter. – Weil er das Schlüsselbein an zwei Stellen gebrochen hatte. Ein komplizierter Bruch, man musste operieren. Wie es ihm ging? Wir sollten später noch mal anrufen. Hat er einen Knochenbruch, sagte Mutter, wird ihn das doch nicht umbringen. Ein Knochenbruch heilt, merk dir das. Ich aber hatte noch Dr. Micalefs düstere Prophezeiung im Kopf, stand tausend Ängste aus. Weil ich blass und elend aussah, hatte Mutter Mitleid mit mir. Ich durfte fernsehen, so lange ich wollte, damit ich auf andere Gedanken kam, mit leise gestelltem Ton allerdings, weil Mutter der Krach auf die Nerven ging. Ich saß also auf der Couch und sah mir wie ein hypnotisiertes Kaninchen italienische Sendungen an, grell, laut und kitschig, voller halb nackter Frauen und explodierender Autos, und die Tränen kullerten mir unentwegt über die Wangen. Ich ärgerte mich – ich weinte sonst nie –, aber ich konnte nichts tun, die Tränen flossen von selbst. »Eine posttraumatische Reaktion«, nannte es meine Mutter. Abends telefonierte sie erneut mit dem Krankenhaus. Der Junge würde jetzt schlafen, hieß es. Es ginge ihm gut. Nein, noch keine Besuche. Vor dem Zubettgehen träufelte Mutter Baldrian auf ein Stück Zucker, und in der zweiten Nacht konnte ich zumindest schlafen. Am nächsten Tag, als Mutter wieder anrief, hieß es, Giovanni ginge es besser, viel besser. Und, nein, nichts deutete daraufhin, dass er einen Gehirnschaden
hatte. Er sei aber noch schonungsbedürftig, man würde erst in zwei, drei Tagen zu ihm gehen dürfen. Vorerst durfte ihn nur Don Antonino besuchen.
    An die allgemeinen Folgen des Unfalls hatte ich bisher wenig Gedanken verschwendet. Und jetzt kam Vater und teilte mir mit, er hätte das Nötige veranlasst, dass die unterirdische Tempelanlage gesperrt wurde. Man würde ein Gitter ziehen, den Eingang mit Brettern sichern. Und ein Schild sollte Unbefugten das Betreten des Geländes bei hoher Geldstrafe untersagen. Ich bemühte mich, ein stoisches Gesicht zu machen, auch wenn ich wusste, dass es das Ende war. Welches Ende? Das Ende von allem, nahm ich an, und das war das Schlimme. Als ich den anderen sagte, dass wir nicht mehr in die Grabkammern durften, schimpfte Vivi in den höchsten und verrücktesten Tönen, während es Peter eher leise zur Kenntnis nahm; noch beherrschte er nicht die Technik der Rebellion. Was Giovanni betraf – der lag ja noch im Krankenhaus. Irgendwann würde es uns wieder besser gehen, vielleicht morgen, wahrscheinlich übermorgen und alle Tage danach. Wir hatten eine eigene, fantastische Welt erfunden, jetzt setzte man uns vor die Tür. Alles gut gemeint, wir aber fühlten uns betrogen, in unseren Vorlieben gestört. Zu schade! Wir begruben unsere Kindheit, legten sie zu den Toten. Als man später ihre Knochen aus dem Boden kratzte und einsammelte, steckten sie auch unsere Kindheit in Plastiksäcke, mit Nummern und Etiketten versehen. Vielleicht war es richtig so. Aber Erinnerungen leben weiter, mit dem klopfenden Herzen verbunden. Und wenn wir Glück haben, bekommen wir als Entschädigung für das, was uns genommen wurde, etwas geschenkt.
    Von der heiligen Puppe hatten wir lange nichts gehört. Dann und wann hatte ich nach ihr gefragt und immer nur die nichtssagende und leicht überhebliche Antwort erhalten: »Der Fund wird untersucht.« Immerhin war die Schlafende zum »Fund« avanciert, eine Bezeichnung, an der bereits etwas
Gewichtiges haftete. Und dann, ein paar Tage nach Giovannis

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