Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
auch ich damit an, vor dir Geheimnisse zu haben und Lügennetze zu spinnen? Dich auszugrenzen aus meinem Leben? Dich von mir zu stoßen, wie unsere Mutter dich von sich gestoßen hatte, als sie das erste Zeichen deines Lebens erhielt?
Du gingst mir nach diesem Gespräch, das keines war, aus dem Weg und nahmst dir vor, selbst herauszufinden, was geschehen war. Immer wolltest du ja alles wissen – und wenn noch so sehr feststand, dass es dir deswegen an den Kragen gehen würde. Ahntest du, dass es nicht unser letzter Besuch in diesem verflucht vornehmen Hause sein würde?
Was gäbe ich darum, jetzt mit dir reden zu können, Georg! Damals, als noch Zeit dazu gewesen wäre, konnte ich es nicht, weil ich mich so unaussprechlich schämte. Wie konnte ich mich nur so in den Schmutz ziehen lassen? Warum ließ ich mich nicht lieber erschlagen, als stillzuhalten und mich in einem Winkel meiner Seele zu verstecken, bis es vorüber war? Wieso wehrte ich mich nicht? Ich wusste doch, wie man Männer körperlich am sichersten schachmatt setzt. Ich war kräftig. Warum nutzte ich es nicht aus? Warum half ich mir nicht selbst?
Ja, ich schämte mich und hasste mich. Und ich hatte eine gewaltige Angst, Georg werde sich von mir abwenden, wenn er erführe, was ich mit mir hatte machen lassen. Würde er jetzt nicht auch sagen: »Selber schuld«?
Und was noch schlimmer war: Stimmte es womöglich gar? War ich nicht selber schuld, dass dieser vornehme Fettmolch sich an mich herangemacht hatte? Immerhin hatte ich nur einen Badeanzug angehabt, der, als er nass war, wie eine zweite Haut an meinem Körper klebte. Immerhin war ich Seite an Seite mit ihm geschwommen, hatte eine Wasserschlacht mit ihm gemacht, hatte seine stützenden Hände an meinem Rücken geduldet, als er mir zeigte, wie man – schön die Brust raus – »toter Mann« auf den Wellen spielte. Lachend hatten wir uns nass gespritzt. Als er mich ein paar Mal aus dem Wasser hob und wieder fallen ließ, dass es nur so klatschte, hatte ich es als Gaudi empfunden – ja und auch genossen. Ich hatte mir nichts dabei gedacht.
Warum nur merkte ich nichts? Warum klingelten keine Alarmglocken bei mir? Georg hatte es doch auch gemerkt. Sogar gewarnt hatte er mich. »Die sind blöd!«, hatte er gesagt. Und ich Hohlkopf hatte es in den Wind geschlagen. Das Haus war super, der Pool war super, der ganze Tag war super, alles war super. Und ich war super beschränkt.
Wie lange war es schon her, dass Georg zu mir gesagt hatte: »Wir schließen einen Pakt. Wir verbünden uns. Wir müssen Leute finden, die der ganze Dreck hier genauso ankotzt wie uns. Wir müssen uns wehren«? Wie oft hatte er seither gedrängt, ich solle jemandem meine blauen Flecke zeigen, die Striemen, die Narben, die blutig unterlaufenen Bissstellen an meinem Busen und am Bauch?
Wenn ich ihm erzählt hätte, was am Swimmingpool passiert war, dann hätte er mir doch Vorwürfe machen müssen: »Hättest du auf mich gehört! Hättest du dich gewehrt, wäre es nicht passiert. Selber schuld!«
Wie hätte ich weiter bestehen sollen, wenn auch er begonnen hätte, mich zu verachten? Er war der Einzige auf der Welt, der bisher alles von mir gewusst hatte und mich trotzdem liebte. Ihn zu verlieren, wäre über meine Kraft gegangen. Nein, es war unmöglich zu reden. Die Angst und die Scham waren das Schloss vor meinem Mund. Lieber hätte ich mir damals die Zunge abgebissen, als Georg in dieses neue Geheimnis einzuweihen.
XXVI
Mein 16. Geburtstag markiert für mich den absoluten Höhepunkt des Grauens.
Schon seit dem vermaledeiten Wochenende in der Eifel hatte mein Vater, der sich sonst nie um meine Geburtstage geschert hatte, ein großes Brimborium gemacht. Er habe eine Überraschung für mich – und was für eine! Augen werde ich machen, die reinsten Kuhaugen, so toll sei sein Geschenk.
Am Morgen meines Geburtstags lag die ungeheure Überraschung auf dem Frühstückstisch: ein Aufklärungsbuch. Anschaulich bebildert, Seite für Seite. Pfui Teufel!
»Wenn man 16 wird, muss man als junge Frau schon mal an die Zukunft denken«, sagte mein Vater salbungsvoll. »Ein junger Mann könnte eines Tages in dein Leben treten, na ja, man weiß doch, wie so was geht, Lena, nicht wahr? Und da gibt es ein paar Sachen, die man einfach wissen sollte. In so einem Buch, dachten wir, ist das alles viel besser dargestellt, als wir es dir erklären könnten. Beschäftige dich in aller Ruhe damit. Es ist so wichtig, ein positives Gefühl für diese
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