Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
feuchte Augen, wenn er sich an den festlich leuchtenden Adventskranz setzte und Weihnachtslieder anstimmte.
Bei Theo und Hedi erwartete uns kein Adventskranz. Ich bin nicht einmal mehr sicher, ob wir gemeinsam aßen. Gesprochen wurde auch nicht viel. Mit Heike konnte ich nicht ein einziges Wort wechseln. Die Erwachsenen sorgten dafür.
»Ein frühreifes, durchtriebenes Ding«, hatte irgendjemand kürzlich über Heike gesagt. »Hat sogar schon einen Freund, mit 13! Na, wenn das meine wäre!«
Ich sehe das neue Büro noch genau vor mir, ringsum mit beigefarbenem Teppichboden ausgeschlagen. »Schalldicht!«, wie Theo stolz verkündete. »Sieht einer noch, dass das hier mal eine Garage war?«
Ja, man sah es: Es fehlten die Fenster. Kein Rausschauen, kein Reinschauen. Absicht?
Die Angst verließ meinen Magen. Vom Nacken aus überzog mich Gänsehaut. Ich war gefangen im Netz der Angst.
»Komplett isoliert ... jede Menge Styropor ... völlig schalldicht ... zieht mal die Schuhe aus, wie weich der Teppich ist ...«
Meine Erinnerung ist sehr unvollständig. Ich kann sie nur stückweise zulassen. Ich ertrage sie nicht. Bis jetzt hatte ich alles in mir verschlossen, hinter sieben Siegeln verdrängt. Ich wollte nichts mehr davon wissen. Ich wollte nicht, dass es geschehen ist.
Für dieses Buch musste ich mich wieder und wieder in die Vergangenheit begeben, ein Siegel nach dem anderen aufbrechen. In Albträumen verbanden sich das Gestern und das Heute zu Visionen einer schrecklichen Zukunft. Es war schwer, mir nicht nur rational, sondern auch gefühlsmäßig immer wieder klarzumachen, dass die Ereignisse vorbei sind und nie wiederkehren werden. Auf ein Schild schrieb ich in großen Buchstaben »Träume sind Filme im Kopf, keine Wahrheit« und hängte es so an die Wand, dass mein Blick darauf fiel, sobald ich die Augen aufschlug.
Wie dankbar bin ich für das geduldige Zuhören verständnisvoller Leute, zum Beispiel der Notrufzentrale, wenn ich nachts um drei oder vier aus unruhigem Dämmerschlaf auffuhr und mit jemandem über meine Angst sprechen musste. Wie dankbar bin ich auch meinen Freunden, die mich immer wieder auffingen, trösteten, aufbauten und meine Qual zu der ihren machten. Und wie gut tut es, endlich ein Zuhause zu haben, dessen Tür sich nur öffnet, wenn ich es will, dessen Bett meines ist, dessen vier Wände mir Geborgenheit und Sicherheit vermitteln.
Mich zu erinnern stürzt mich in eine Panik wie die des Fallschirmspringers, dessen Schirm sich nicht entfaltet. Ich zerre hilflos an den Leinen, erlebe verzweifelt den freien Fall, habe meine Vernichtung klar vor Augen – bis der Schirm sich plötzlich doch öffnet. Jedes Erinnern ist ein neuer Absprung, ein neuer Sturz. Und jedes Mal stellt sich von neuem diese entsetzliche Angst ein, einmal nicht mehr aufgefangen zu werden und endgültig abzustürzen.
Auch jetzt ist diese Angst da, während ich alle Kraft zusammennehme, mich zu erinnern und dabei dem Grauen standzuhalten, das aus dem Dunkel nach mir greift.
Heike war, wie gesagt, 13, drei Jahre jünger als ich. Sie hatte schon einen Freund. Vielleicht hielt sie heimlich Händchen mit ihm, vielleicht küssten sie sich auch und hielten einander im Arm. Es ist schön, geliebt zu werden und lieben zu können. Theo machte etwas Schmutziges daraus. »Sie treibt sich herum«, sagte er. »Benimmt sich wie eine Nutte.«
In dieser Nacht sollte Heike erfahren, was einem Mädchen passiert, das sich mit Kerlen einlässt.
Ich war 16 geworden. Es war also Zeit, dass ich endlich in die hohe Kunst der Liebe eingeweiht wurde. Es war Zeit, dass ich endlich die volle Leistung einer erwachsenen Frau erbrachte.
Der Unterricht begann relativ harmlos – mit der Anprobe meiner Geburtstagsüberraschung, einer kompletten Ledergarnitur. Mein Vater hatte keine Kosten gescheut, mir diesen seinen sehnlichen Wunsch zu erfüllen. Und da er sowieso schon dabei war, hatte er sich auch gleich selbst was gegönnt: ein Gerät, das ihm, fernab jeglicher gesundheitsschädigender Pillen und Tröpfchen, die ewige Härte verlieh. Es wurde umgeschnallt und über den Pimmel gestülpt. Ob klein oder groß, steif oder weich – was im »Halter« steckte, war immer bereit, eine Frau glücklich zu machen. Da der Vorteil eines solchen Wunderdings jedem Mann von der Art meines Vaters sofort einleuchtete, hatte sich Theo ebenfalls so ein Ding zugelegt.
Zum Vorspiel gab es Schläge. Heike und ich schlugen eher zaghaft – brave Töchter hauen ihre
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