Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
ein Anruf vom Gesundheitsamt. Meine Mutter nahm ihn entgegen. Ihr wurde mitgeteilt, dass ich eine schwere Pilzinfektion habe und unbedingt zum Arzt gehen müsse. Ich erfuhr davon nur, weil meine Mutter meinen Vater davon in Kenntnis setzte und ihn hämisch fragte, ob er nicht auch schon etwas an sich bemerkt habe.
Da ich nicht zum Arzt ging, rief das Gesundheitsamt noch zweimal bei uns an. Einmal nahm Georg, einmal ich selbst den Hörer ab. Nun musste ich mir also selbst anhören, dass ich einen Pilz im Genitalbereich habe, der auf alle möglichen anderen Organe übergreifen werde, falls ich weiterhin nichts dagegen unternehme. Damit nicht genug, stellte die Frau am anderen Ende der Leitung plötzlich die unmöglichsten Fragen. Bei wem ich mich angesteckt haben könne? Ob ich regelmäßig Geschlechtsverkehr habe? Ob ich vielleicht vergewaltigt worden sei?
Ich hing ein. Das Geheimnis! Meine Scham.
Das Telefon klingelte noch mehrmals. Jedes Mal legte ich auf, sobald die Stimme zu reden begann.
»Wer war das?«, fragte Georg. »Was wollen die denn dauernd?«
»Falsch verbunden«, sagte ich und konnte ihm nicht in die Augen sehen.
Meine Mutter brachte mir einige Tage später Zäpfchen aus der Apotheke mit und irgendeine Creme. Mein Vater sorgte eigenhändig dafür, dass ich die Medikamente richtig und regelmäßig anwandte. Er versorgte sich selbst gleich mit. Zum Arzt gingen wir beide nicht.
Das zweite Ereignis war ein überraschender abendlicher Besuch von Tante Susanne und Onkel Oskar. Obwohl ich die vereinbarte Kummerliste nicht geschrieben hatte, machten beide sich ernstlich Sorgen um mich. Was anlässlich dieses Besuches zwischen ihnen und meinen Eltern besprochen wurde, weiß ich nicht. Wir Kinder durften nicht ins Wohnzimmer kommen. Georg, der einmal kurz in den Flur schlich, um zu lauschen, wusste nur zu berichten, dass Tante Susanne aufgeregt war und unserer Mutter Vorwürfe machte. Genaueres verstand er jedoch nicht.
»Hast du’s ihnen gesteckt?«, wisperte er mir ins Ohr, als er ins Bett zurückgeschlüpft war.
»So ungefähr«, flüsterte ich.
»Und?«
»Nichts, sie haben’s nicht gecheckt. Nur so halb. Sie können nichts machen.«
»Ruhe, verdammt!«, sagte Boris und warf sich ärgerlich im Bett herum. »Ich will schlafen!« Mit ihm war nicht gut Kirschen essen, wenn er müde war. Georg und ich beendeten unser Gespräch lieber.
Die Tatsache, dass sowohl das Gesundheitsamt als auch Tante Susanne mit ihrem Richter-Ehemann in unserer Familie herumzuschnüffeln begonnen hatten, brachte meinen Vater in Harnisch. Tagelang schrie und zeterte er mit meiner Mutter herum und spielte den gekränkten Ehemann. In Wirklichkeit aber hatte er Angst. Zwar glaubte er mittlerweile sicher zu wissen, dass ich nicht reden würde. Doch zwei voneinander unabhängige Parteien hatten entdeckt, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte. Wieder einmal bestand unmittelbare Gefahr, entdeckt zu werden. Mich für eine Zeit lang aus dem Verkehr zu ziehen, wäre also das Beste. Die Einladung nach Berlin war plötzlich wie ein Geschenk des Himmels. Die drei läppischen Wochen würde er schon auf mich verzichten können.
So kam es, dass ich tatsächlich die Erlaubnis erhielt, nach Berlin zu reisen. Ein paar Tabletten und die Vorfreude auf den Urlaub – mit keiner Droge hätte ich die Wirklichkeit besser verdrängen können.
Georgs unglückliches Gesicht verfolgte mich noch, als ich längst bei meiner Freundin eingetroffen war. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, ihn inmitten der ganzen perversen Bande allein gelassen zu haben. Obwohl meine Freundin und deren Eltern sich riesig Mühe gaben, mir den Aufenthalt in Berlin schön und erlebnisreich zu gestalten, konnte ich meine Sorgen nicht ablegen. Ob Wannsee, die Mauer und Check-Point Charly, ob Ku’damm, diverse Museen oder Disco – ich kam von meinen Gedanken nicht los.
Mehrmals rief mein Vater an, ich solle vorzeitig zurückkommen, meine Mutter sei krank und brauche mich. Jedes Mal war ich der Mutter meiner Freundin unendlich dankbar, dass sie mich nicht postwendend zurückschickte, sondern meinem Vater klarmachte, so einfach sei die Sache nicht, ich könne nicht mir nichts, dir nichts zurückreisen. Schließlich habe sie die Reise bezahlt und ein Recht darauf, dass ihre Großzügigkeit gewürdigt werde. Solche Töne verstand mein Vater.
Nur einen Tag gab es in diesen drei Wochen, an dem ich nahe daran war, alles hinzuschmeißen und von mir aus vorzeitig nach Hause
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