Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
anstrengende Fahrt. Etwas Ruhe kann nicht schaden. Komm, Monika, ich bringe dich zu Bett. Georg, du gehst mit Mama. Und Nadja zeigt Boris, wo er schläft. Habe ich das richtig behalten, Raimund?«
Der Fette grinste. »Jedem das Seine, mir das Feine.« Und dabei sah er mich an, dass ich eine Gänsehaut bekam.
»Na, dann schlaft gut!«, lachte mein Vater und zeigte Boris einen aufgereckten Daumen. »Genießt, was das Haus zu bieten hat. So toll kriegen wir es lange nicht wieder, was, Georg?«
»Ja, Papa.« Georg sah keinen dabei an.
Wie brav er war! Stimmte etwas nicht? Oder fiel er tatsächlich auf das süße Gesäusel herein?
War dieses gehorsame Bürschchen derselbe Junge, der mir noch vor ein paar Stunden gesagt hatte: »Diesmal kriege ich raus, was hier läuft!«, und der nicht von seinem Plan abzubringen gewesen war? Ich wusste nicht, was ich von diesem Wandel halten sollte. Ich versuchte ihn mit meinen Augen zu erreichen. Ahnte er es? Er blickte mich nicht ein einziges Mal an, bis meine Mutter mit ihm davonzog. Was hatte er vor? Hatte er überhaupt etwas vor? Die Sorge um ihn drängte die Angst vor dem Mittagsschlaf in den Hintergrund.
Boris und Nadja, die Gastgeberin, verschwanden irgendwo in einem Nebentrakt. Wir Mädchen teilten uns diesmal ein Doppelbett in einem der Gästezimmer. Was immer für uns geplant war – es sollte uns nicht in getrennten Betten widerfahren, so viel stand fest. Für Georg stand Elviras Kinderzimmer zur Verfügung. Die Eltern würden sich im Schlafzimmer vergnügen; darüber musste kein Wort verloren werden.
Erleichtert stellte ich fest, dass das Kinderzimmer und unser Gästezimmer relativ weit voneinander entfernt lagen. So schien keine Gefahr zu bestehen, dass Georg mein schlimmstes Geheimnis lüften würde. Schließlich wusste er so gut wie ich, dass es bei strengster Strafe verboten war, sein Zimmer zu verlassen, wenn Schlafen angesagt war. Ich versuchte, mich zu beruhigen: Nichts würde geschehen.
Elvira war wie gar nicht anwesend. Wortlos hatte sie sich in ihre Betthälfte verkrochen. Die Decke bis zum Hals, lag sie da wie eine Mumie. Keine von uns blickte die andere an. Was wir voneinander wussten, was wir gemeinsam erdulden und eine der anderen antun mussten, vertrug keine Blicke. Bis in die Tiefe der Seele hinein waren wir beschämt und verletzt. Weder verziehen wir der anderen noch uns selbst. Und was geschehen war, würde sich wiederholen. Wir wussten nur nicht, ob jetzt gleich oder erst am Abend. Angespannt lauschten wir in den Flur hinaus.
Plötzlich Geschrei. Elvira kreischte vor Schreck gleich mit. Ich aber gab keinen Ton von mir. Georg! Wer sonst sollte es sein?
Eine Frau zeterte, meine Mutter. Die Stimme des Fetten klang aufgeregt. Mein Vater war der Lauteste. »Was fällt dir ein? Wer hat dir erlaubt, hier herumzuspionieren! Dir werd ich’s zeigen!«
Es klatschte zweimal. Ohrfeigen. Tonlos steckte Georg sie ein. Er war Schlimmeres gewöhnt. Dann zornige Schritte, Türenschlagen, wieder Ruhe.
»Lieber Gott«, betete ich, »lass ihn in seinem Zimmer bleiben. Mach, dass ihn keiner mehr hört. Lass ihm bitte nichts passieren.«
Ich weiß nicht, warum ich immer noch betete. Gott hatte mir nie einen Anlass gegeben, an seine Hilfe zu glauben. Wahrscheinlich fing ich nur deshalb immer wieder damit an, weil ich keinen einzigen Menschen hatte, den ich um Hilfe bitten konnte. Dieser unbarmherzige, an mir desinteressierte Gott war die einzige Adresse, bei der ich es zumindest versuchen konnte, auch wenn die Chance, von ihm erhört zu werden, etwa so groß war wie die eines Millionengewinns im Lotto.
Vielleicht hatte Gott mich diesmal wirklich erhört. Wahrscheinlicher allerdings ist, dass Georg aus besserer Einsicht in seinem Zimmer blieb. Er hatte in Erfahrung gebracht, was er fürs Erste wissen wollte. Da in dieser Nachmittagsstunde die Post zwischen den Erwachsenen abging, war für ihn nicht zu erwarten, dass anschließend auch noch etwas mit uns Mädchen lief. Folglich hätte er seine Haut unnötig riskiert, wäre er trotz des Verbots zum zweiten Mal auf Lauschposten geschlichen. Weit sinnvoller würde er sein detektivisches Gespür zu einem vielversprechenderen Zeitpunkt einsetzen.
Elvira schien ebenfalls begriffen zu haben, dass uns zumindest vorerst niemand belästigen würde. Als ich mich kurz nach ihr umwandte, schlief sie, wie ein Igel eingerollt, selbst das Gesicht fast zur Gänze unter der Decke vergraben. Ich konnte nicht schlafen. Ich musste
Weitere Kostenlose Bücher