Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
abgehalten hab und alles.«
Bilder zogen an mir vorbei: Georg, der auf Boris Pferdchen spielte; Boris, der eine saftige Tracht Prügel von Mama einsteckte, weil er den Kleinen, der Unsinn gemacht hatte, nicht verpetzen wollte. Pat und Patachon – wer hatte die beiden so genannt? Das letzte Bild fiel mir ein: Georg, den Arm um Boris gelegt, mir die Hand reichend: »Ich helfe dir, aber nur, wenn wir uns wieder vertragen.«
Mich mit Boris zu vertragen, ihn lieb zu haben, für ihn da zu sein – war dies Georgs Vermächtnis, sein letzter Wunsch an uns, an mich?
Arm in Arm saß ich da mit Boris. Zum ersten und letzten Mal in unserem Leben ließen wir gemeinsam unseren Tränen freien Lauf.
Meine Mutter brach mit einem wahren Tobsuchtsanfall zusammen, als sie die Nachricht von Georgs Tod erfuhr.
Solange er lebte, war er das unerwünschteste ihrer unerwünschten Kinder gewesen. Jetzt, da er nicht mehr kommen konnte, führte sie sich auf, als wolle sie ohne ihn nicht mehr leben.
»Ihr habt ihn auf dem Gewissen!«, schrie sie Boris und mich an. »Ihr hattet als Ältere die Verantwortung. Ihr solltet auf ihn aufpassen. Ihr Versager! Ihr hättet wissen müssen, wie gefährlich diese Brücke ist. Aber nein, ein paar lausige Kröten für einen Ferienjob und irgendeine vergammelte Dreckschippe von irgendeinem dämlichen Bauhilfsarbeiter – alles war euch wichtiger als mein Kind. Wegen euch ist er tot. Ihr, ihr seid schuld!«
Boris sah aus, als wolle er am liebsten auch von der Brücke springen. Sogar meinem Vater, der bisher nur stumm den Kopf in die Hände gestützt hatte, fiel sein Gesichtsausdruck auf.
»Mama meint es nicht so«, sagte er und drückte ihren Kopf an seine Schulter. »Sie ist ungerecht, weil sie unglücklich ist. Das müsst ihr verstehen. In Wirklichkeit weiß sie natürlich, dass ihr nicht für Georgs Tod verantwortlich seid. Es war ein tragischer Unglücksfall. Keiner von uns kann etwas dafür. Georg wollte unbedingt zu dieser Brücke. Nicht einmal ich hätte ihn davon abhalten können. Er wollte es so. Wir müssen uns damit abfinden. Und jetzt kein Wort mehr darüber. Helft mir lieber, Georgs Sachen wegzuschaffen. Ich will nicht, dass unsere Wohnung eine Art Museum wird, und besuchen kann ihn jeder von euch auf dem Friedhof. Das Leben geht weiter. Und damit ihr seht, wie ernst es mir damit ist, fahren wir gleich morgen früh in die Eifel. Ein paar Tage abschalten, das tut uns allen gut.«
So kam es, dass alles, was Georg je gehört hatte, noch am Tage seines Todes aus dem Leben meiner Eltern verschwand. Kleider, Schuhe, Spielsachen, Bücher – alles ab in die Kiste. Heimlich rettete ich Kleinigkeiten, ein unvollendetes Knüpfbild, einen Stift, den er gern benutzt hatte. Selbst die Fotoalben mit Bildern von ihm verschwanden in irgendeinem Schrankversteck. Nirgendwo sollte Georg uns mehr begegnen.
Wie leer und verlassen uns das Kinderzimmer plötzlich vorkam. Kahle Regalböden, in denen eben noch ungeordnet Schmusetiere, Autos, ein paar Bücher und allerlei Krimskrams gelegen hatten. Wie nie benutzt der Kleiderschrank, in dem gestern noch Pullis, Hemden, Unterhosen kreuz und quer auf allen Ablagen vermixt waren. Nicht einmal mehr Bleistiftspäne auf Georgs Schreibtisch. Stattdessen ein paar Kisten, Kartons, Plastiktüten in der Ecke. Ausverkauf eines Lebens.
»Glaubst du, er sieht das?«, fragte Boris mich.
Ich wollte nicht darüber nachdenken. Wie viel schöner war es doch, mir vorzustellen, er sei verreist, für drei Wochen oder von mir aus auch acht Wochen. Nein, Georg war nicht tot. Er war in Kur, mehr nicht. Er würde wiederkommen, eines Tages, lachend, ohne grünblaue Flecke.
Die Flecke. »Hat man die Striemen gesehen, Boris?« Ich wagte kaum zu flüstern.
Alles still. Keine Antwort. Warum sagte Boris nichts?
Er weinte, die Augen weit offen. Als ich mich näher zu ihm beugte, schossen seine Arme vor und hielten mich fest. »Warum hat er das getan?«, flüsterte Boris. »Weil Papa ihn so verprügelt hat? Darum?«
Ich hätte die Wahrheit sagen müssen. »Georg hat sich getötet«, hätte ich herausschreien müssen, »weil er wollte, dass die verdammte Geheimnistuerei hier bei uns aufhört. Er hat sich getötet, weil er hasste, was mit mir hier passiert. Er wollte mir helfen, damit es aufhört. Er wollte, dass sein Tod untersucht wird. Polizei sollte kommen. Der Sexschrott sollte entdeckt werden. Das war es, was Georg wollte. Darum hat er es getan, einzig darum.«
Aber ich blieb stumm.
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