Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
bisschen. Das hatten wir beide gern. »Na, zuerst beißt er ihr ins Bein«, sagte er, »und dann legt er ihr das Baby in den Schoß. Das klappt eben nur im Krankenhaus. Der Storch kann doch nicht wissen, wo die Leute alle wohnen, die ein Kind wollen.«
»Wollen wir denn ein Kind?«, fragte ich. »Mama will nicht.«
»Quatsch!«, sagte mein Vater und schubste mich von seinem Schoß. »Noch so ein Wort, und es patscht!«
Ich verzog den Mund, als ob ich weinen wollte. Mein Vater hob die Hand. »Geflennt wird nicht! Verstanden?«
Er erwartete eine Antwort, ich wusste es. Aber ich traute mich nicht zu sprechen. Ich hatte Angst zu weinen.
Mein Vater steckte die Hand in die Hosentasche. »Sag so was nie wieder! Zu niemandem! Das ist unsere Familie! Was hier passiert, geht niemanden was an! Verstanden?«
»Ja, Papa!«, flüsterte ich. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen, so froh war ich, dass er noch mit mir sprach.
Mein Vater kannte mich genau. »Unartige Kinder küsst man nicht!«, sagte er. »Entschuldige dich! Sag: Entschuldige, lieber Papa, ich habe es nicht so gemeint. Los!«
»Entschuldige, lieber Papa, ich habe es nicht so gemeint«, sagte ich und warf mich an seine Brust, als er die Arme öffnete. Alles war gut, wenn er mich so hielt.
Meine Großeltern in Essen nahmen für die Dauer des Krankenhausaufenthaltes meiner Mutter Stefan zu sich. Nie konnte ich verstehen, dass er sich so freute, bei ihnen wohnen zu dürfen, und sogar Heimweh nach ihnen hatte. Boris durfte zu Oma Grete ziehen, die ihn immer besonders gern mochte. Er erinnerte sie sehr an meinen Vater, als dieser noch klein war. Und mich nahm Tante Inge bei sich auf. Niemand kann sich ausmalen, wie glücklich ich war.
Mein Vater hatte in diesen Tagen nicht nur wegen des neuen Babys recht wenig Zeit für uns. Da er inzwischen seine Meisterprüfung erfolgreich bestanden hatte, war ihm in einem Ingenieurbüro unserer Heimatstadt eine neue, besser bezahlte und mit mehr Verantwortung versehene Arbeitsstelle angeboten worden. Er selbst sprach wenig mit uns Kindern über seinen Beruf, dafür plusterte sich meine Mutter umso mehr auf. Von ihr erfuhren wir wie jeder andere, der es wissen wollte oder auch nicht, mein Vater sei Ingenieur, Starkstromingenieur. Dass mein Vater keineswegs einen solchen Berufsabschluss besitzt, erfuhr ich persönlich erst nach dem Prozess aus den Gerichtsakten.
Da mein Vater sich beruflich so stark verbessert hatte, war endlich genug Geld für die längst nötige größere Wohnung vorhanden. Zufälligerweise fanden wir auch gleich ein passendes Objekt in einem Mehrfamilienhaus. Bis meine Mutter und das Baby aus dem Krankenhaus zurückkämen, sollte diese Wohnung renoviert und der Umzug perfekt sein.
Wir Kinder merkten nicht viel von der allgemeinen Aufregung. Selbst die einem Umzug stets vorausgehende Unordnung und Kistenwirtschaft fiel uns kaum auf. Bei uns sah es sowieso immer aus wie bei Hempels unterm Sofa.
Spannend wurde es speziell für mich nur dann, wenn ich zusammen mit Tante Inge durch die Straße spazierte, in der wir nun bald wohnen sollten. Fahrbahn, Gehweg, alles war aufgerissen, überall wurde gebaut. Und meine Tante hatte so viel Geduld. Immer wieder blieben wir stehen. Rohre, Kabel, alles war wichtig. Nie hagelte es Kopfnüsse, wenn ich etwas wissen wollte. Nie sagte sie: »Kapierst du ja doch nicht!«
Ich war vier Jahre und acht Monate alt, als mein Vater mich in der Wohnung meiner Tante an die Hand nahm und sagte: »Heute besuchen wir die Mama im Krankenhaus. Dein neues Brüderchen ist da.«
Brüderchen? Wieso? Ich wollte doch eine Schwester! Jemanden, der war wie ich, ein Mädchen, eine Verbündete.
»Freust du dich?«, fragte mein Vater.
Ich dachte daran, wie böse er sein konnte, und sagte: »Ja.«
»Na, also!«, meinte mein Vater. »Komm, die Mama wartet schon.«
Meine Mutter sah merkwürdig fremd aus in den weißen Krankenhauskissen. »Ich komm bald wieder nach Hause«, sagte sie. »Hast du mich schon vermisst?«
Mein Vater stieß mich an. »Ja, Mama«, presste ich heraus.
»Ihr müsst gleich wieder gehen«, sagte meine Mutter. »Wenn die Schwester die Moni sieht, schmeißt sie euch sofort raus. Kinder dürfen hier nämlich nicht rein. Wegen der Ansteckungsgefahr. Schade, ich hatte mich so auf dich gefreut, Manfred. Musstest du sie wirklich unbedingt mitbringen?«
Ich hörte nicht, was mein Vater antwortete. Ich guckte auf meine Sandalen. Blitzblank waren sie geputzt. Mein Cousin
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