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Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter

Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter

Titel: Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Jaeckel
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und hemmungslose, zerstörerische Gier nach meinem Körper. Stattdessen empfand ich meine eigene Schuld. Denn es stimmte ja, was er behauptete: Ich wünschte mir oft verzweifelt, geborgen und sicher in seinen Armen zu liegen, von ihm gestreichelt und geküsst zu werden. Trotz meines Widerwillens gegen die Art, in der mir mein Vater Zärtlichkeit gab, war mein Bedürfnis nach Zärtlichkeit so groß, dass ich alles tat, um sie zu bekommen. Ich akzeptierte, dass der Preis für das Gefühl, geliebt zu werden, darin bestand, dass mein Vater Dinge mit mir tat, die mich schmerzten, erschreckten und ekelten. Das musste wohl alles seine Richtigkeit haben. Denn mein Vater, den jeder so schätzte und bewunderte, tat gewiss nichts Falsches. Wenn ich verabscheute, was er mit mir tat, so musste es an mir liegen. Dann war ich ein böses Mädchen. Ich aber wollte immer, mehr als alles andere, ein liebes Mädchen sein – sein liebes Mädchen.
    Dass ich trotz des Desinteresses meiner Eltern an meinen schulischen Leistungen nicht total verblödete und sogar das Rüstzeug mitbekam, einmal die mittlere Reife zu schaffen, habe ich nicht nur – wie so vieles – meiner Tante Inge zu verdanken, sondern auch Georgs unstillbarem Hunger nach Geschichten. Während mich Tante Inge die Rechtschreibung und das Einmaleins lehrte, lernte ich mit Georg im Arm das Vorlesen.
    Nicht selten fanden diese Vorlesestunden unter der Bettdecke statt; immer dann nämlich, wenn wir die Geräusche aus dem elterlichen Schlafzimmer aussperren wollten.
    An einem solchen Abend, als Boris, Georg und ich uns mit der Taschenlampe unter die Decke verkrochen hatten, warf Georg sich plötzlich auf den Rücken herum und hielt sich die Ohren zu. »Warum machen die das?«, fragte er und versuchte seine Tränen zu unterdrücken. »Warum turnen die denn so, wenn Mama der Rücken wehtut?«
    Ich wusste keine Antwort. Wenn mein Vater »Spielchen« mit mir machte, stöhnte er manchmal auch, aber anders, viel leiser. Und er turnte auch nicht. Wie sollte ich auf die Idee kommen, Zusammenhänge herzustellen?
    Boris setzte sich auf. »Mama sagt, es ist schön«, sagte er wichtigtuerisch. »Sie sagt, es tut überhaupt nicht weh, sondern macht Spaß. Sie sagt, wenn man sich liebt, turnt man so, und dann muss man so stöhnen, weil es so schön ist. Alle machen das. Wir auch, wenn wir groß sind.«
    »Ich aber nicht!«, rief Georg. »Ich will das nicht – nie!«
    Keiner von uns konnte ahnen, wie schrecklich sich diese Voraussage eines Tages erfüllen sollte.
    Das Kreischen und Wimmern im Schlafzimmer war leiser geworden. Gleich würde die Tür klappern und im Bad das Duschwasser rauschen. Hastig versteckten wir unsere Taschenlampe unter dem Bett. Die begonnene Geschichte fertig zu lesen, wagten wir nicht.
    In meinem Kopf jedoch arbeitete es. Unbeabsichtigt hatte Boris ein Räderwerk in Gang gesetzt. Liebe – Turnen – Stöhnen – Schreien – Schmerzen ... Wie passte das zusammen? Ich hatte Turnstunden in der Schule. Doch die waren weder besonders schön, noch stöhnten wir. Wie turnten Mama und Papa und die fremden Männer denn wohl, dass es so schön war? Und was hatte Turnen mit Liebe zu tun? Turnten Tante Inge und Onkel Ralf auch so? Warum hatte ich sie dann noch nie schreien gehört, wenn ich bei ihnen übernachtete?
    Und so fragte ich in meiner Wissbegier den Menschen, den ich auf gar keinen Fall hätte fragen dürfen: »Papa, was ist denn Liebe?«

XIII
    Es war an einem dieser Abende, an denen meine Eltern Besuch bekommen hatten – irgendwann zwischen Ostern und Sommer 1976. Schon am Nachmittag waren wir Kinder dazu vergattert worden, abends nur ja nicht unser Zimmer zu verlassen. Meine Mutter badete stundenlang, danach rannte sie mit Lockenwicklern und rot angemalten Zehennägeln herum. In der ganzen Wohnung roch es nach ihrem Parfüm. Und der Kühlschrank war voller leckerer Sachen.
    Sobald es an der Tür schellte, hieß es für uns Bettruhe. Mit gespitzten Ohren lauschten wir hinaus, ob wir den Besuch an der Stimme erkannten. Nein, es war ein fremder Mann. Er hatte eine ungewöhnlich tiefe Stimme. Zur Begrüßung überreichte er meiner Mutter Blumen, wie wir an ihren entzückten Bewunderungsrufen und dem Knistern von Cellophanpapier erkannten. Etwas später drehte mein Vater die Stereoanlage auf. Besteck klirrte, ein Sektkorken knallte. Jemand lachte, meine Mutter fiel schrill ein.
    »Was die wohl essen?«, flüsterte Boris. »Ich hab solchen Hunger.«
    Georg kicherte.

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