Monster (German Edition)
Schiff steht auf einem Regalbrett aus Kiefer, das von zwei lieblos hineingedübelten Winkeln in der Mitte der Wand gehalten wird. Der Kahn oder die Karavelle, wie Ninas Opa das Schiff nennt, ist aus Holz, wirkt so groß, so schwer, dass man sich wundert, dass das Brett es hält. Es ist das Schiff zum Kolumbusbuch.
Von dem Schiff abgesehen ist das Zimmer des Opas bloß Furnier und schlappe Polster. Ein verbeultes Kaltschaumsofa, eine wacklige Stehlampe und ein nutzloser Schreibtisch. Sachen aus dem Möbeldiscount vom Stadtrand. Wäre da nicht das Krankenbett aus dickem, weißen Rohr und der Rollstuhl, das Zimmer von Ninas Opa sähe aus wie ein Jugendzimmer.
Ninas Opa kann das Schiff nicht mehr alleine sauber machen. Seine Arme hängen nutzlos an seinem Körper herunter, die Beine stehen auf den Fußstützen des Rollstuhls. Benjamin würde das für ihn machen. Er hat ja sonst nichts zu tun in diesem Zimmer. Aber der Alte will nicht, dass das ein anderer macht, dass das ein anderer versaut.
»Ich will nicht, dass ihr mir mein Schiff versaut oder was hab ich gesagt? Ich will nicht ...«, sagt er, »dummer Junge. Dummer, dummer Junge.« Dann macht er wieder eine seiner Pausen, die keine rhetorischen Pausen sind. Die Augen werden leer, der Mund schlaff, als hätte ein Puppenspieler die Hand aus seinem Kopf gezogen. Dann ist er wieder da. Er sagt: »Ich will nicht, dass ihr die Schiffe versaut oder was hab ich gesagt.«
Nina und Benjamin sind jetzt schon fast zwei Wochen zusammen.
»Kolumbus hat das Ei einfach auf den Tisch geknallt, dass die Schale gebrochen ist, und da stand es dann. Auf dem Kopf, wie er es dem König versprochen hatte«, sagt Ninas Opa einmal. »Früher war ich der Kolumbus, mein Junge. Da habe ich die Dinge auf den Kopf gestellt. Das kannst du mir glauben. Heute bin ich das Ei.« Dann lacht er gurgelnd, und dann lachen er und Benjamin kurz zusammen. Manchmal denkt Benjamin einen komischen Gedanken: Dass er Ninas Opa gern kennengelernt hätte.
Dann plötzlich blättert der Alte wieder verwirrt in seinem Kolumbusbuch herum. Als hätte er was zwischen den Seiten verloren. Und es kommt wieder aus ihm raus wie Fernsehquizantworten: »Die ›Santa Maria‹ wurde 1480 im nordspanischen Santander gebaut! Alles Augenmaß!«, ruft er mit sandiger Stimme, »ein hochseetauglicher Dreimaster, 23,6 Meter lang und knapp acht Meter breit«, als hätte er das Schiff gebaut, »ohne einen Plan oder eine Zeichnung, nur mit einem untrüglichen Gespür für Stromlinie und Proportion. Heute ist Santander ein beliebter Badeort, und alle Indianer auf Hispaniola sind tot.«
Er liegt auf seinem Bett. Er schaltet den Fernseher auf Stumm und zappt zum Kanal mit der Telefonsexwerbung. Eine Motte ist durch das Fenster reingekommen und summt um seinen Kopf. Motten machen staubige Leichen. Er macht das Licht in seinem Zimmer aus und das im Flur an. Er hört seine Eltern fernsehen. Als die Motte zu ihnen raus ist, schließt er die Tür. Dann legt er sich ins Bett, wichst leise, schläft ein.
»Mir hat Opa noch nie ein Buch geschenkt. Ich wusste gar nicht, dass er überhaupt welche hat«, sagt Nina und sieht ein bisschen eingeschnappt aus. »Lies mir vor. Ach nein, lieber doch nicht, es sieht zu lahm aus. Okay, doch, na los, fang schon an.«
»Warte. Ich suche eine spannende Stelle.«
Er legt sich neben sie auf das Bett und blättert. Er hatte sich die Schrift in dem Buch viel kleiner vorgestellt, viel geheimer. Aber es ist eine große Schrift, leicht zu lesen. Sein Blick bleibt bei dem Bild von einem Mönch oder Priester hängen, der mit einer Feder in der Hand an einem Schreibtisch sitzt. Hinter ihm steht ein halbnackter Indianer. Die Haare von dem Mönch sehen aus, als hätte der Indianer sie gerade einmal kräftig durchgewuschelt. Sie schauen zusammen aus einem Fenster auf eine Landschaft voller Palmen. »Bartolomé de Las Casas« steht unter dem Bild. Daneben ist eine Zeichnung, nur schwarzweiß, aber er kann nicht aufhören, draufzugucken. Sie zeigt Männer in Rüstungen und halbnackte Indianer. Ein Ritter legt ein Holzscheit auf ein Feuer, über dem Indianer aufgehängt sind. Einer der Hängenden schaut hoch in den Himmel, sein Mund macht ein »O«, aber nicht die erstaunte Sorte. Direkt neben ihm hängt eine schöne, nackte Frau mit langen Haaren, die sehr weich aussehen. Ein anderer Ritter hat ein Baby an den Beinen gepackt und ist dabei, es mit dem Kopf gegen die Wand zu donnern. Im Hintergrund sind mehr
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