Monströs (German Edition)
Selbstverständlichkeit, ein natürlicher Reflex, über den man nicht nachzudenken brauchte. Der Schutz des eigenen Kindes, ging über den Wunsch, selbst weiter zu leben hinaus.
In dem Kaltenbach Martin unmissverständlich zu verstehen gegeben hatte, dass er auch Paul töten würde, wenn er mit Martin fertig war, löste er die gleiche Schutzreaktion Martins aus. Martin war bereit zu sterben, wenn Paul dafür leben konnte.
Die Gedanken schossen in Sekundenbruchteilen durch Martins Kopf. Wenn sie erst einmal unten in der Station wären, würde Eddie ihn als Erstes fesseln. Dann hätte er keine Chance mehr zu entkommen. Im Grund genommen hatte er die mit seinem gebrochenen Arm und dem kaputten Knie auch hier und jetzt im hohen Schnee schon nicht. Nicht gegen diesen Kerl, der schon unzählige Kämpfe in seinem Leben bestritten hatte, während Martin noch nicht einmal eine kleine Schlägerei auf dem Konto hatte. Aber das spielte keine Rolle mehr. Einem Kampfhund hätte er schließlich auch den Arm in dem Bewusstsein hingehalten, dass der Hund die Knochen mit Leichtigkeit durchbeißen würde. Es ging um seinen Sohn. Im nächsten Augenblick flogen sämtliche Sicherungen aus Martins Gehirn.
Er drehte sich um und ging zu allem entschlossen auf Kaltenbach los. Der Abstand betrug vielleicht drei Meter. Aber in dem hohen Schnee dauerte es eine scheinbare Ewigkeit, einen Fuß vor den andern zu bekommen. Raphael war über Martins Manöver so überrascht, dass er für eine Sekunde nichts sagen konnte. Dann fand er seine Fassung wieder.
»Was soll denn der Scheiß, Waller?«
Er richtete seine Waffe auf Martins Kopf.
»Muss ich dich wirklich jetzt schon erschießen?«
Martin reagierte nicht. Er kämpfte sich weiter auf Raphael zu. Martin sah ihm dabei in die Augen. Er konnte erkennen, dass Raphael hin und her gerissen war. Gerne hätte er Martin eine Kugel verpasst, aber dann würde er niemals die Informationen bekommen, die er sich von ihm erwartete.
Kurz bevor Martin ihn erreichte, senkte Raphael blitzschnell die Pistole und schoss. Die Kugel drang knapp neben Martins linkem Knie in den Schnee ein. Ein Warnschuss. Martin hielt für einen Moment instinktiv inne. Das laute Knallen des Schusses hallte an den umliegenden Bergwänden wieder. Dann machte er eine weitere Bewegung auf Eddie zu. Was dann geschah, dauerte nur Sekunden, auch wenn es Martin in seiner persönlichen Wahrnehmung viel länger vorkam.
Als der Schuss fast verklungen war und Martin den nächsten Schritt machen wollte, wurde der verklingende Widerhall des Schusses von einem anderen Geräusch überlagert und schließlich abgelöst. Es war ein undefinierbares Rauschen wie das Tosen einer anbrandenden Welle. Martin wusste noch nicht, was es war, aber er wusste, dass der Schuss die Ursache dafür gewesen sein musste. Das Geräusch klang bedrohlich und wurde schnell lauter. Martin dachte an Wasser, das in einem gigantischen Wasserkocher zu brodeln begann. Plötzlich wusste er, was es war. Er hatte gerade noch die Zeit, vor Schreck die Augen aufzureißen. Dann ging alles ganz schnell.
Martin sah hinter Eddie eine riesige Schneewolke auftauchen. Es war eine Lawine, ausgelöst durch den Schuss. Martin drehte sich um, nach unten in Richtung der Seilbahnstation und sprang. Eddie schaffte es nur noch, sich umzudrehen. In dem Moment überrollten die Schneemassen ihn auch schon. Weniger als eine Sekunde später erfasste die Lawine auch Martin.
53
Oh Gott, bitte nein. Panik durchzuckte seinen Körper. Er versuchte, sich gegen das Gewicht des Schnees zu stemmen. Er gewann ein paar Zentimeter und verlor jede Menge Kraft. Sein Atem ging schnell und flach. Seine Augen wanderten unablässig hin und her. Ich komme hier nie wieder raus, ich ersticke. Ich sterbe. Die Gedanken bemächtigten sich seiner, schlugen eine breite Schneise in seine Gehirnwindungen und durchtrennten sämtliche Verbindungen, die es ihm ermöglicht hätten, vernünftig zu sein. Er schwitzte, obwohl er vom kalten Schnee umhüllt war wie ein Lou de Mère im Salzmantel.
Er hatte sein ganzes Leben den Schnee gemieden. Dafür hatte es nur einen Grund gegeben. Das Trauma seiner Kindheit saß tief. Mit jeder Schneeflocke, die seitdem vom Himmel gefallen war, hatte er die schrecklichsten Stunden seines Lebens wieder vor Augen gehabt. Begraben im Schnee. Und jetzt hatte ihn dieser Alptraum in der Realität eingeholt. Er verfluchte seinen Therapeuten, der ihm geraten hatte, sich seinen Ängsten zu stellen.
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