Monströse Welten 1: Gras
das gleiche, während er einen gewundenen Pfad tief in den legendären Grasgärten von Klive entlangging. »In diesem Augenblick habe ich mich in sie verliebt. In dem Moment, da ich sie sah, habe ich mich in sie verliebt. Als ich sie in den Arm genommen habe. Noch nie habe ich jemanden so geliebt.«
Die Dame seines Herzens war indes nicht Stella. Es war Marjorie.
11
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»Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt.« Marjorie kniete im Beichtstuhl an der Seite der Kapelle, wobei ihr Gesicht von der Abendsonne beschienen wurde. In der Kapelle herrschte ein düsteres Zwielicht, das vom Licht auf dem Altar wie von einem glühenden Auge durchdrungen wurde. »Ich habe meiner Tochter gezürnt. Und meinem Ehemann…«
Sie und Vater James waren allein in der Kapelle. Rigo befand sich mit Hector Paine in den Winterquartieren. Stella und Tony waren zusammen mit Vater Sandoval hinunter ins Dorf geritten, um Sebastian Mechanic und dessen Frau Dulia einen Besuch abzustatten, die nach Aussage von Sebastian die beste Köchin des Universums war. Seit dem Empfang hatte Eugenie kaum noch die Nase aus dem Haus gesteckt; und dort befand sie sich auch in diesem Moment. Als Marjorie durch die Gärten zur Kapelle gegangen war, hatte sie Eugenie singen gehört, ein leicht angesäuselter Klagegesang, aus dem der Grund ihrer Trübsal jedoch nicht hervorging. Der Blues, so hatte Marjorie irgendwo einmal gelesen, bedurfte keines konkreten Anlasses. Eine generelle Mißstimmung genügte schon. Nun hatte Marjorie das alte Lied, obwohl es nicht einmal besonders melodisch war, ständig im Ohr. Mit Bedauern sah sie die Sonne untergehen.
»Ich habe die Geduld mit Stella verloren«, sagte sie. Eine Erklärung hierfür war nicht nötig. Dafür kannte Vater James sie alle viel zu gut. »Ich habe mich mit Rigo gestritten…«
Streit wegen der Jagd, weil er seinen Hals riskierte und noch mehr als das. »Ich habe an Gott gezweifelt…«
Nun wurde Vater James hellhörig. »Wie haben Sie gezweifelt?«
Wenn es einen Gott gäbe, würden Rigo und ich uns lieben, und Rigo würde mich nicht so behandeln, wie er es tut. Wenn es einen Gott gäbe, würde Vater Sandoval mich nicht wie ein bloßes Anhängsel meines Mannes betrachten und mir jedesmal Gehorsam auferlegen, wenn ich unglücklich bin. Ich habe nichts getan, aber ich werde bestraft, und das ist nicht gerecht. Sie sehnte sich nach Gerechtigkeit. Anstatt darauf zu sprechen zu kommen, biß sie sich jedoch auf die Lippe und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. »Wenn Gott wirklich mächtig wäre, würde er der Pest ein Ende bereiten.«
Dann herrschte Schweigen im Beichtstuhl, und zwar so lange, daß Marjorie sich schon fragte, ob Vater James vielleicht eingeschlafen sei. Nicht daß sie es ihm zum Vorwurf gemacht hätte. Ihre Sünden waren wirklich langweilig, zumal es nicht die erste Beichte dieser Art war. Sie alle hatten schon so viele schwere Sünden begangen, daß es genügte, sie der ewigen Verdammnis anheimfallen zu lassen. Rigos Makel war Überheblichkeit. Eugenies Markenzeichen war Trägheit. Stellas Schwäche war Neid. Und sie, Marjorie, verspürte eine unbändige Wut auf sie alle. Und auf sich selbst, die sie immer alle Schuld weit von sich gewiesen hatte!
»Marjorie«, meldete Vater James sich zurück. »Vor einigen Tagen habe ich mir die Hand an einem Grashalm aufgeschnitten; es war eine schlimme Verletzung. Sie hat sehr geschmerzt. Wunden, die von Gras geschlagen wurden, heilen anscheinend auch nur sehr langsam.«
»Das ist wahr«, murmelte sie. Die Erfahrung war ihr nicht neu, und sie fragte sich, worauf er hinauswollte.
»Als ich blutend dastand, überkam mich plötzlich die Erkenntnis, daß ich die Wunde an der Hand zwar sah, aber nicht imstande war, sie zu heilen. Ich beobachtete sie wohl, aber ich konnte sie nicht behandeln, so sehr ich es mir auch gewünscht hätte. Ich konnte den Zellen an den Rändern der Wunde nicht befehlen, sie zu verschließen. Ich war und bin nicht in der Lage, ihr Wirken zu beeinflussen. Und ich bin zu groß, in meine Zellen einzudringen und ihre Funktionsweise zu untersuchen. Das gilt auch für Sie und überhaupt für alle Menschen.
Aber nehmen Sie einmal an, rein hypothetisch, daß es Ihnen gelänge, ein… äh… Virus zu erschaffen, das über Intelligenz verfügt! Angenommen, Sie würden es in Ihren Körper
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