Monströse Welten 1: Gras
einschleusen und ihm befehlen, sich zu vermehren, jeden Krankheitserreger aufzuspüren und zu vernichten. Angenommen, Sie würden diese Wesen mit dem Auftrag zur Wunde schicken, sie zu nähen. Mit dem bloßen Auge würden Sie sie nicht sehen. Sie wüßten auch nicht, wie viele von ihnen im Einsatz wären. Sie könnten weder ihre Position noch ihre Tätigkeit ermitteln und wüßten auch nicht, welche Anstrengungen sie unternähmen und wer den Kampf erschöpft oder entmutigt aufgegeben hätte. Sie wüßten nur, daß Sie einen Stamm von Kriegern erschaffen und in den Kampf geschickt hätten. Ob sie diesen Kampf gewonnen hätten, wüßten Sie erst, wenn Sie geheilt oder tot wären.«
»Ich verstehe nicht, Vater.«
»Manchmal frage ich mich, ob es das ist, was Gott mit uns gemacht hat.«
Marjorie versuchte, denn Sinn seiner Worte zu ergründen. »Aber würde das denn nicht Gottes Allmacht einschränken?«
»Wahrscheinlich nicht. Vielleicht wäre es sogar ein Ausdruck dieser Allmacht. Im Mikrokosmos braucht Er womöglich Helfer – oder hält es zumindest für zweckmäßig. Vielleicht hat Er sich Helfer erschaffen.
Vielleicht hat Er uns als das biologische Äquivalent von Mikroskopen und Antibiotika erschaffen.«
»Wollen Sie damit sagen, daß es Gott nicht möglich sei, etwas gegen die Pest zu unternehmen?«
Die unsichtbare Person hinter dem Gitter seufzte. »Ich will damit sagen, daß Gottes Intervention womöglich darin besteht, daß er uns erschaffen hat. Vielleicht verlangt Er von uns, daß wir das tun, worum wir Ihn in unseren Gebeten bitten. Er hat uns für eine bestimmte Aufgabe erschaffen und in den Kampf geschickt. Und weil wir uns nicht unbedingt für diesen Kampf begeistern, bitten wir Ihn, uns zu entlasten. Das ficht Ihn aber nicht an, denn Er kümmert sich nicht um individuelle Schicksale. Er kennt weder unsere Position im Körper noch unsere Zahl. Er betreibt keine Erfolgskontrolle. Erst wenn der Körper – das Universum – geheilt ist, wird er wissen, daß wir unseren Auftrag ausgeführt haben!« Der junge Priester hustete. Marjorie begriff nicht sofort, daß er lachte. Lachte er nun über sie oder über sich selbst? »Haben Sie schon einmal von der Unschärferelation gehört, Marjorie?«
»Ich besitze schließlich eine Hochschulausbildung«, erwiderte sie wutschnaubend.
»Dann wissen Sie also, daß wir nicht imstande sind, bei Sehr Kleinen Entitäten zugleich ihre Position und ihren Zustand zu bestimmen. Allein durch die Beobachtung verändert sich auch ihr Zustand. Vielleicht widmet Gott den Einzelschicksalen deshalb keine Aufmerksamkeit, weil er uns dadurch bei der Arbeit stören und unseren freien Willen beeinflussen würde…«
»Ist das Ihre Doktrin, Vater?« sagte sie verärgert und voller Zweifel und fragte sich, was wohl über ihn gekommen sei.
Ein weiterer Seufzer. »Nein, Marjorie. Das sind nur die Spekulationen eines Priesters mit Heimweh. Natürlich ist es keine Doktrin. So gut müßten Sie den Katechismus doch kennen.« Er kratzte sich am Kopf; zum Glück fiel diese Unterhaltung unter das Beichtgeheimnis. Auch wenn Marjorie sich wirklich etwas zu wichtig nahm, hätte Vater Sandoval seine letzten Worte sicher nicht gebilligt…
»Wenn wir alle an der Pest sterben, dann wegen unserer Sünden«, sagte sie störrisch. »Und nicht, weil wir sie nicht entschieden genug bekämpft hätten. Aber unsere Seelen sind unsterblich.«
»So sagen Heiligkeit und die Moldies«, murmelte er. »Sie sagen, wir müßten alle sterben, damit unsere Seelen leben, in der Neuen Schöpfung.«
»Ich will damit nicht sagen, daß wir nun von der Pflicht entbunden seien, die Pest zu bekämpfen«, wandte sie ein. »Aber wir haben sie unseren Sünden zu verdanken.«
»Unseren Sünden? Ihre und meine, Marjorie?«
»Die Erbsünde«, murmelte sie. »Wegen der Sünde unserer Ureltern.« Ureltern wie Rigo und Stella, die ihren Leidenschaften freien Lauf ließen, ohne die Folgen zu bedenken. Und wenn sie dann den Untergang der Welt herbeiführten, würden sie womöglich noch dabei lachen. Nie verhielten sie sich so überlegt und rücksichtsvoll, wie sie es eigentlich tun sollten. Nie waren sie friedlich. Sie seufzte.
»Erbsünde?« fragte der junge Priester verwundert. Früher hatte er vorbehaltlos daran geglaubt, aber mittlerweile war dieser Glaube ins Wanken geraten. Außerdem gab es da noch einige andere Aspekte des Katechismus, bei denen er sich auch nicht mehr so sicher war. Die Zweifel an der Doktrin hätten
Weitere Kostenlose Bücher