Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Monströse Welten 1: Gras

Monströse Welten 1: Gras

Titel: Monströse Welten 1: Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sheri S. Tepper
Vom Netzwerk:
schaute ihn mit offenem Mund an. »Ich bin geritten«, erwiderte sie verständnislos. »Ich bin geritten, Daddy.«
    Sie folgte dem Blick ihres Vaters und schaute zur Terrasse hoch. Dort stand Mutter mit einem Glas in der Hand. Sie war leichenblaß und wunderschön. Sylvan stand neben ihr. Er hatte den Arm um Marjorie gelegt und deutete zu ihnen hinunter. Wie war es möglich, daß er dort oben stand und nicht einmal mehr den Jagdanzug trug, wo er doch eben noch geritten war?
    Stella spürte, wie sie errötete. Sylvan hatte gar nicht an der Jagd teilgenommen. Das war unmöglich. Ihr Vater ließ sie zurück und eilte die flache Treppe hinauf. Mutter umklammerte die Balustrade mit beiden Händen, so daß die Knöchel weiß hervortraten. Sylvan stützte sie und beorderte mit einem Fingerschnicken einen Diener herbei. Dann erschien Vater und drängte ihn beiseite.
    »Marjorie!«
    Seine Frau schaute ihn ausdruckslos an, als ob sie ihn nicht wiedererkennen würde. »Stella«, sagte sie und wies nach unten. »Ihr Gesicht…«
    Rigo drehte sich um und betrachtete seine Tochter, die unten an der Treppe stand. Er hatte zu spät reagiert und nicht mehr das gesehen, was Marjorie gesehen hatte, den gleichen kalten, leeren Blick, den auch das Gänsemädchen gehabt hatte, als sie auf Opal Hill erschienen war.
    Stella stampfte mit dem Fuß auf und zitterte vor Wut und Enttäuschung angesichts der Erkenntnis, daß Sylvan ihre Reitkünste nicht bewundert hatte und daß sie sich fast nicht mehr an die Ereignisse des heutigen Tages erinnerte. Sie erinnerte sich wohl an Pferde und Hunde und einen Fuchs, aber das waren echte Pferde und echte Hunde gewesen, in einer anderen Zeit, vor vielen Jahren. Sie erinnerte sich an dieses Gefühl, von dem sie überwältigt worden war, und Schamröte stieg ihr ins Gesicht, aber sie wußte nicht, weshalb sie es verspürt hatte. Sie schaute nach oben und sah, daß Sylvan besorgt dreinblickte, Vater wütend und Mutter ängstlich; nun überkam sie die Erkenntnis, daß Dinge um sie herum vorgingen, bedrohliche, bedeutende Dinge, denen sie bisher keine Beachtung geschenkt hatte.

 
12
    •••••••••••••••••••••••••••••••••••••••
     
     
    Shoethai, Assistent beim Büro für Akzeptable Doktrin, saß in der Kantine des Raumhafens und wartete darauf, daß ein Schiff entladen wurde. Der Ältere Bruder Noazee Fuasoi hatte verkündet, das Schiff sei mit einer sehr wichtigen Fracht bestückt, und dann hatte er Shoethai losgeschickt, um die Ladung in Empfang zu nehmen.
    ›Warum gerade ich?‹ lautete Shoethais unausgesprochene Frage. Auch jetzt vermied er es, sein Spiegelbild im Fenster zu betrachten, das wie ein schwebender, häßlicher Geist auf besagtes Schiff projiziert wurde. Sein Gesicht war so verunstaltet, daß mehrere Angehörige des Hafenpersonals so taten, als ob sie ihn nicht gesehen hätten, einschließlich zweier Kellner in der Kantine. Shoethai hatte sich im Lauf der Zeit an sein Äußeres und die Reaktionen der Leute gewöhnt, so daß er den Schmerz und den Zorn, den er deshalb empfand, nicht mehr zeigte; aber diese Emotionen schwelten unter der Oberfläche weiter und wurden mit jedem Tag intensiver. Der Ältere Fuasoi hätte wirklich jemand anders schicken können. Yavi oder Fumo. Sie sahen zwar auch nicht gerade aus wie ein Adonis, aber auch nicht wie ein Monster. Es war die ewige Frage: ›Warum ich?‹
    Damals, in Heiligkeit, hatte irgendein wohlmeinender Idiot Shoethai zuweilen mit folgenden Worten zu trösten versucht: »Immerhin kannst du dich doch deines Lebens freuen. Ist doch immer noch besser, als tot zu sein, oder?« Was nur ein neuer Beweis für ihre Dummheit und Gefühllosigkeit war, ihn mit solchen Klischees zu bedenken. Nein, er freute sich nicht seines Lebens. Nein, er wäre doch lieber tot, nur daß er sich vor dem Tod fürchtete. Am besten wäre es gewesen, sein Vater hätte ihn gleich nach der Geburt getötet. Vater hatte sich wenigstens um ihn gesorgt und nur das Beste für ihn gewollt. Und das hätte eben darin bestanden, daß er entweder gar nicht geboren worden wäre oder, da das anscheinend unvermeidlich gewesen war, innerhalb der ersten paar Wochen getötet worden wäre, solange er noch nichts von der Grausamkeit der Welt wußte. Das Allerbeste wäre jedoch gewesen, wenn er sein Gesicht nie gesehen hätte.
    Und dennoch hatte der Ältere Bruder weder Fumo noch Yavi geschickt. Der Ältere Bruder hatte

Weitere Kostenlose Bücher