Monströse Welten 1: Gras
passiert?« Rillibee schloß die Augen und sah den Sprecher förmlich vor sich, wie er sich in einer Taverne über den Tisch beugte und eine Geschichte erzählte.
Er schob sich durch die Äste. Die Stimmen brachen hinter ihm ab. Er drehte um und bewegte sich wieder auf die Geräuschquelle zu, wobei er sanft über die Äste hinwegglitt. Die Stimmen waren irgendwo aus den glühenden Bäumen gekommen. Er würde sie schon noch finden.
Außerdem mußte er noch etwas anderes finden. Das Mädchen. Stella. Er hatte ihren Namen in seine Litanei aufgenommen. Sie gehörte zu ihm, zu Rillibee Chime. Obwohl sie einer wohlhabenden und bedeutenden Familie entstammte, gehörte sie zu ihm. Obwohl sie ihn vielleicht verabscheuen würde…
»Himmel«, flüsterte der Papagei über ihm.
Er kletterte weiter durch die Dunkelheit. In der Morgendämmerung fand er endlich die Wesen, deren Stimmen er gehört hatte, als die ersten Sonnenstrahlen durch die Blätter aus ›Herzensbrecher-Gold‹ in ihre Stadt drangen.
Marjorie wurde durch Vogelgezwitscher und das Plätschern von Wasser geweckt. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie sich orientiert hatte und noch etwas länger, bis ihr der nächtliche Ausflug wieder einfiel. Sie sah sich nach Bruder Lourai um, fand ihn aber nicht; statt dessen schaute sie in Mainoas Augen.
»Er ist nicht zurückgekommen«, sagte der alte Mann.
»Sie wußten, daß er weggegangen ist…«
»Ich habe gesehen, daß er Sie geweckt hat und daß Sie dann zusammen weggegangen sind. Aber Sie sind allein zurückgekommen.«
»Er ist dort hinauf.« Sie deutete auf das hohe Blätterdach, durch das glitzerndes Sonnenlicht fiel. »Er sagte mir, sein Name sei ›Kletter-Willi‹, und ich brauche mir keine Sorgen um ihn zu machen.«
Mainoa nickte. »Ja. Wir brauchen uns wirklich keine Sorgen um ihn zu machen. Er ist wie Sie. Wenn er in eine schwierige Situation gerät, spielt er manchmal mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen, aber dann gewinnt die Neugier doch wieder die Oberhand.«
Sie errötete; woher wußte er nur so viel über sie? Es stimmte. Bei ihr siegte auch immer die Neugier. Als ob etwas auf sie warten würde. Irgendeine Gelegenheit…
Vater James kam mit einem Eimer Wasser vom Teich zurück, wobei er einen agilen und frischen Eindruck machte. »So gut habe ich schon seit Wochen nicht mehr geschlafen«, sagte er. »Ich hatte wirklich merkwürdige Träume.«
»Ja«, bestätigte Bruder Mainoa. »Das gilt wohl für uns alle. Irgend etwas hat diese Träume verursacht.«
Marjorie erhob sich. Plötzlich wirkte sie besorgt.
»Nein, nein.« Der alte Mann stand im Zeitlupentempo auf, wobei er sich an den knubbeligen Auswüchsen eines Baums hochzog. »Keine Sorge, Marjorie. Sie sind auch bloß neugierig.«
»Sie?«
»Wir werden ihnen heute noch begegnen. Wenn Bruder Lourai wieder zurück ist.«
»Hat er auch noch einen anderen Namen?« fragte Tony.
»Bruder Lourai? Sicher. Als Junge hieß er Rillibee. Rillibee Chime. Macht er auf Sie nicht den Eindruck eines Bruders?«
»Tony findet, er sieht nicht aus wie die Geheiligten, die wir kennen«, erklärte Marjorie. »Er hat zu große Augen. Und ein zu schmales Gesicht. Er ist viel zu sensibel und intelligent. Ich habe mir die Geheiligten immer als beleibte Fanatiker mit schlichtem Gemüt vorgestellt, die ständig inquisitorische Fragen stellen.
Den Altkatholiken hingegen sagt man eine schlanke Statur und ein asketisches Gesicht mit großen Augen nach. Sie gelten als Philosophen. Das sind natürlich nur Stereotypen, und zuweilen schäme ich mich auch deswegen, aber ich werde sie einfach nicht los, nicht einmal, wenn ich in den Spiegel schaue. Sie sehen auch nicht wie ein Geheiligter aus, Bruder. Aber ich vermute, Sie verwenden den Namen Mainoa schon zu lange, als daß Sie ihn noch ablegen wollten.« Sie wandte sich ab, um Vater James’ amüsiertem und fragendem Blick auszuweichen.
»Schon viel zu lange«, bestätigte Mainoa lachend. »Aber nennen Sie Bruder Lourai nur bei seinem richtigen Namen. Das bedeutet ihm viel. Er wird es zu schätzen wissen.«
»Wir werden heute versuchen, die Spur weiterzuverfolgen«, sagte Marjorie.
»Damit werden wir vielleicht noch ein paar Tage warten müssen«, entgegnete Mainoa.
Empört und frustriert wegen der Verzögerung drehte sie sich zu ihm um und wollte ihn schon anschreien. Vater James legte ihr die Hand auf den Arm.
»Gedulden Sie sich, Marjorie. Bewahren Sie einen kühlen Kopf. Nur nichts
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