Monströse Welten 2: Hobbs Land
belastete ihr Gewissen, und schließlich spie sie die Wahrheit aus: »Ich habe dich und mich selbst belogen, mein Kind. Ich habe nicht von Liebe gesungen, sondern von Tod. Nach dem Tod meines Sohnes Maechy komponierte ich ein Lied. Es hieß ›Das letzte Geflügelte Wesen‹ und handelte vom Engel der Hoffnung, der nach Scaery kam und mich fragte, ob er in meinen Augen ein Engel sei wie jeder andere. Hoffnung war der letzte Engel, das letzte geflügelte Wesen.«
Neugierig schaute Samstag in die verhangenen Augen der Frau. »Wovon handelte das Lied?«
»Das Lied handelte davon, wie es in Voorstod zugeht. Der Engel ist gestorben, wie auch alle anderen Engel gestorben sind. Liebe, Freude, Friede, alles ist tot. Wir Frauen sagen, daß in Voorstod eine Kultur des Todes herrscht. Als dann auch noch die Hoffnung starb, konnte ich nicht mehr singen. Also bin ich gegangen.«
»Wie ging das Lied, Maire?«
»Ich weiß nicht mehr. Die letzten Worte waren:
›… küß mich, mein Kind, auf Wiedersehen, mein Kind, folge mir, mein Kind, wir gehen.‹«
Verwirrt schüttelte Samstag den Kopf. »Ich verstehe nicht.«
»Ich will es dir erklären. Der Exodus der Frauen von Voorstod dauert nun schon mehrere hundert Jahre. Als wir bereit zum Aufbruch waren, als wir unseren Männern sagten, daß wir gehen würden und sie uns auslachten, weil sie uns nicht glaubten, als wir alles zusammenpackten, was wir tragen konnten und uns schier die Augen ausweinten, sagten wir Küß mich zu all den Söhnen und Männern, die nicht mit uns kommen wollten; wir sagten Auf Wiedersehen zu ihnen und allen Freunden und Kindern, die gestorben waren; und schließlich sagten wir Folge mir zu den kleinen Kindern und Mädchen, die mit uns gingen. Als ich ging, gab es niemanden, den ich zum Abschied küssen konnte. Ich verabschiedete mich von meinem Sohn Maechy, der auf Voorstod umgekommen war. Ich sagte zu Sam und Sal, sie sollten mir folgen. Das war mein letztes Lied. Ich werde nie wieder singen.«
* * *
Manchmal bricht eine Nacht über Hobbs Land herein, die, auch wenn niemand es vermuten würde, anders ist als alle anderen Nächte. Sie kündet von bevorstehenden Geburten, riesigen, geflügelten Wahrheiten, die zusammengerollt und schimmernd in schattigen Höhlen liegen und jeden Moment aus ihnen hervorbrechen werden. Solche Nächte brauchen keinen Mondenschein; sie werden von ihrer eigenen Stille erhellt.
Der nun achtundzwanzigjährige Sam findet keinen Schlaf. In der Dunkelheit manifestieren sich Konturen, die mit Potentialen angefüllt sind. Vielleicht fällt ein Wort in einer solchen Nacht. Vielleicht tritt ein Ereignis ein. Sam verspürt in dieser Nacht nicht den Drang, Felsbrocken umzukippen und mit der Taschenlampe die darunterliegenden Mysterien zu ergründen. Sam ist dessen überdrüssig. Also wendet er sich nach Osten, verläßt den besiedelten Sektor und kehrt wieder um; er sucht nach dem Unbekannten und schreitet Felder ab, deren Ackerfurchen im Sternenlicht silbern glitzern und deren Halme sich in die Höhe recken und murmeln, als ob sie intelligente Wesen wären. Alles atmet den Ruhm dieser Nacht, als ob eine Wolke voller Wunder sich herabgesenkt hätte. Sams Schritte werden unsichtbar geleitet, und er folgt Pfaden, die er nicht einmal im Tageslicht erkennen würde. Die Sterne über ihm drehen sich wie große Feuerräder; er fühlt es richtig, als ob eine Maschine arbeiten würde. Also läuft Sam Girat mit großen, raumgreifenden Schritten durch die Nacht und kehrt kurz vor Anbruch der Morgendämmerung zur Siedlung zurück, ohne daß er ein Auge zugetan hätte.
In der Nähe befindet sich der kleine, dunkle Tempel von Bondru Dharm, von dem Geräusche wie ein Atmen ausgehen, wie die flachen Atemzüge eines schlafenden Kindes. Luft steigt im Tempel auf und sorgt für Abkühlung. Der Gott hockt in einer Säule aufsteigender Luft; er ist in Licht getaucht. Plötzlich überkommt Sam die Erinnerung – obwohl er schon seit Jahren nicht mehr im Tempel war -; beim Gedanken an den Gott spürt er ein Gefühl der Zuneigung oder vielleicht auch nur eine flüchtige Neugier, die zu einer gewissen Freude geronnen ist.
Die Tür des Tempels öffnet sich leicht, fast wie von selbst. Der glatte Boden birgt keine Gefahr. Sam findet die ins Innere führende Gittertür und geht davor in die Hocke. Er schaut in die Dunkelheit und sieht die Lichter, feurige Galaxien, die an der Unterseite des Gottes erscheinen und allmählich emporsteigen, bis sie in der
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