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Monströse Welten 3: Toleranz

Monströse Welten 3: Toleranz

Titel: Monströse Welten 3: Toleranz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sheri S. Tepper
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gastierten, gingen sie in Antiquariate und erstanden jedesmal eine Armvoll Bücher. Nachts lagen sie im Wohnwagen und lasen im Schein der Taschenlampe ein Buch. Nela, die ein Faible für Romantik und Zoologie hatte, las Liebesromane und naturwissenschaftliche Bücher. Bertran las Geschichtsbücher, mathematische Werke und Biographien. Religion indes faszinierte beide, jedoch nicht als Glaube, sondern als Wissenschaft. Obwohl weder ihre Eltern noch der Priester oder die Nonnen diesen Punkt erwähnt hatten, erkannten die Zwillinge, daß die Religion keinen geringen Anteil daran gehabt hatte, daß sie so, wie sie waren, auf die Welt gekommen waren. Manchmal unterhielten sie sich darüber und fragten sich, ob sie, wenn sie die Wahl gehabt hätten, auf die Welt hätten kommen wollen. An guten Tagen bejahten sie diese Frage. An schlechten Tagen verneinten sie sie. Tante Sizzy, die eine dieser Unterhaltungen mitbekommen hatte, sagte ihnen, daß jeder sich so fühlen würde. An manchen Tagen, so sagte sie, wünschte jeder, er oder sie wäre nie geboren worden und er oder sie würde sterben, damit das Elend ein Ende hätte. Das Klügste war, ein paar Tage abzuwarten und zu sehen, ob die Dinge sich zum Besseren wendeten. War dann immer noch keine Besserung eingetreten, mußte man eben tun, was man tun mußte; zumal sie auch nicht glaubte, daß man wegen eines Selbstmords in die Hölle kommen würde, so übervölkert wie die Erde war. Doch normalerweise, betonte sie, genügten ein paar Tage, um einen Stimmungsumschwung herbeizuführen.
    Manchmal glaubten die Kinder, daß sie recht hatte. Dann wieder dehnten die Tage sich zu Wochen, und sie wollten schier verzweifeln. Manchmal deprimierte sie ihr Schicksal so, daß sie gar nicht fähig waren, etwas dagegen zu tun, selbst wenn sie es wollten. Deshalb beschlossen sie weiterzumachen, und manchmal waren sie sogar imstande, darüber zu lachen. Sie machten weiter, weil sie zu deprimiert waren, um Selbstmord zu begehen.
    Gelindert wurde die Depression, indem sie manchmal lange Gespräche über ihren Freund Schildkrötentaube führten, über seine schulischen Leistungen, seine Erfolge in der Jugendliga, und ob es Sinn hatte, daß er weiterhin Violinenunterricht nahm.
    »Die Stunden sind so teuer!« sagte Nela.
    »Aber der Lehrer sagt, er hätte großes Talent«, sagte Bertran. »Wir würden es uns nie verzeihen, wenn wir ihm die Chance nähmen, ein Genie zu werden.«
    Unterdessen nahmen sie, unabhängig von ihrer jeweiligen Befindlichkeit, Tanzunterricht bei einem der Mangini-Mädchen und erlernten beim Besitzer und Manegenmeister des Zirkus, Matt Mulhollan, die Sprechkunst; obendrein schnappten sie bei einem der Clowns ein paar Taschenspielertricks auf. Sie lernten zwar schnell, doch wie Sizzy sagte, wurde der reine Nervenkitzel durch Lüsternheit und Leichtgläubigkeit bedingt, während Unterhaltung keine Grenzen kannte. »Wenn man die Leute gut unterhält, ist es ihnen egal, wer du bist«, sagte Tante Sizzy. »Die meisten Leute interessieren sich sowieso nicht für die Wahrheit.« Sie führte ein paar Politiker, darunter einen Ex-Präsidenten, als Beispiele an. »Die größten Blender der Welt. Sie waren nicht übermäßig intelligent, aber weil sie die Leute gut unterhalten haben, hat das niemanden gekümmert.« Die anderen Schausteller pflichteten ihr bei und halfen den Zwillingen beim Training, bis die beiden aus jeder Pore Charme verströmten.
    Dabei kam ihnen auch ihre Intelligenz zustatten. Niemand, nicht einmal sie selbst, hatte jemals daran gezweifelt. Sie waren voll bei der Sache, denn sie begriffen, daß ihr Wohlergehen davon abhing. Sie trainierten ihre Stimmen; Nela übte eine höhere Tonlage, Bertran eine tiefere. Sie entwickelten eine ausgefeilte Rhetorik und lernten, Zwischenrufern Paroli zu bieten. Sie waren die Krönung der Zaubertricks.
    »Ein Sandstrahler hat es nicht leicht«, sagte Bertran. »Auch ein Wetzstahl nicht.«
    »Erzähl das bloß nicht Schildkrötentaube«, sagte Nela. »Er würde vor Scham im Erdboden versinken, wenn er wüßte, daß seine Mutter ein Wetzstahl oder eine Hobelmaschine war.«
    Bald lockten ihre Vorstellungen immer mehr Zuschauer an. Er registrierte einen deutlichen Anstieg der Besucherzahlen, sagte Matt Mulhollan während einer der regelmäßigen nächtlichen Besprechungen zu Sizzy, zwischen ein paar Bieren und der üblichen Sexeinlage. Ein stetiger, deutlicher Anstieg.
    Sizzy gab das an die Zwillinge weiter. Als sie daraufhin etwas

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