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Monströse Welten 3: Toleranz

Monströse Welten 3: Toleranz

Titel: Monströse Welten 3: Toleranz
Autoren: Sheri S. Tepper
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nicht annähernd die kleinsten waren. Es gab Tänzerinnen (jede Frau unter dreißig, die nicht anderweitig beschäftigt war) für die Eröffnungsvorstellung, zu denen auch das Mädchen gehörte, das als Madame Evanie vorgestellt wurde, die weltberühmte Schlangenbeschwörerin. Es gab den erstaunlichen Holzkopf, der Nägel mit der Stirn einschlug. Es gab die Baronin Vampira mit ihren langen Reißzähnen, die nicht einmal die im Publikum anwesenden Zahnärzte von echten unterscheiden konnten; sie hatte sie nämlich in Los Angeles anfertigen lassen, wo die Zahntechnik in den Rang einer Kunstform erhoben worden war. Es gab Tiberias, den Gedankenleser, der meistens keine Gedanken lesen konnte und manchmal doch. Und es gab Bertran und Nela Zy-Czorsky (Nela hatte ihren Nachnamen künstlerisch verfremdet), das Achte Weltwunder, die einzigen männlich-weiblichen Siamesischen Zwillinge im Universum.
    Bertran trug ein mitternachtsblaues Kostüm mit Fliege und Schwalbenschwanz, dazu ein weißes Satinhemd. Nela trug ein glitzerndes rosa Kleid mit Pailletten und Rüschen. Sie standen nebeneinander auf der Plattform, so lange, daß die Leute unruhig wurden und die ganze Sache in Frage stellten. Daraufhin drehten die beiden sich etwas voneinander weg und präsentierten das breite Band aus rosigem Fleisch, das sie miteinander verband. »Ist ein Arzt oder eine Krankenschwester unter den Zuschauern?« rief Tante Sizzy dann.
    Manchmal war das der Fall. Tante Sizzy verlangte immer einen Nachweis, wenn jemand sich als Arzt oder Krankenschwester zu erkennen gab. Waren keine Angehörigen dieser Berufsgruppen vertreten, dann gab ein Mitarbeiter des Zirkus sich dafür aus, kam auf die Bühne, betastete das Fleisch, begutachtete die Verbindungsstellen und tat erstaunt. »Mein Gott. Sie sind’s wirklich!«
    »Ja, aber vielleicht sind es doch zwei Männer oder zwei Frauen«, rief dann irgendein Klugscheißer. Und wenn der Zwischenruf ausblieb, übernahm ein ›Provokateur‹ den Part: »Ja, aber…«
    »Für fünf Dollar«, leitete Tante Sizzy dann ihren Vortrag ein. Sie präsentierte eine Grafik und nahm einen Zeigestock zur Hand. Sie hielt einen Vortrag über Chromosomen, daß alle anderen Siamesischen Zwillinge entweder nur Jungen oder nur Mädchen waren, und daß Nela und Bertran eine Art Wunder seien. Dann fiel der Vorhang, und alle Frauen, die fünf Dollar übrig hatten, gingen auf die eine Seite, und die Männer gingen auf die andere Seite, um nachzuschauen.
    Es war gar nicht so schlimm. Nicht einmal die Peepshow war schlimm. Tante Sizzy untersagte Berührungen, und Nela wurde nur von Frauen begutachtet und Bertran nur von Männern. Bertran entkleidete sich, zeigte das Brusthaar und die kleinen, aber maskulinen Genitalien. Nela öffnete das Kleid und zeigte die androgyne Brust (die am Abend zuvor von Tante Sizzy epiliert worden war) und ihre unverkennbar nicht-männlichen Geschlechtsorgane. Dann zogen die Zuschauer ab. Die Männer fragten ihre Frauen und Freundinnen: »War sie ein Mädchen?«, und die Frauen fragten die Männer: »War er ein Junge?« Sie versicherten sich gegenseitig, daß sie ein Mädchen beziehungsweise er ein Junge gewesen sei.
    Natürlich kam das Schulamt ihnen auf die Schliche. Tante Sizzy, die eine Geburtsurkunde fälschen wollte, um die beiden zwei Jahre älter zu machen, mußte ein happiges Bestechungsgeld zahlen, um das Curriculum zu erwerben, und die Kinder mußten den Unterrichtsstoff lernen, um die halbjährlichen Prüfungen zu bestehen, aber das schafften sie mit links! Sie bestanden die Prüfungen, ohne viel dafür getan zu haben. Wer auch immer diesen Lehrplan konzipiert hatte, er war nie bei Schwester Jean Luc in die Schule gegangen!
    Nachdem sie das Winterquartier bezogen hatten, ließ Sizzy Nela Brüste implantieren. Keine großen. Das würde unglaubwürdig wirken, sagte Tante Siz. Lieber kleine. Genau richtig für ein halbwüchsiges Mädchen. Außerdem wurde Nela der Bart und das Brusthaar entfernt, und die Konturen des rötlich-blonden Schamhaars wurden begradigt, damit sie femininer wirkte. Tante Sizzy setzte beide auf Diät, damit sie diesen, wie sie sich ausdrückte, ›unattraktiven Speck‹ verloren. Bertran färbte das Haar dunkel, um sich von Nela abzuheben, die blond blieb. Als Nelas Wunden verheilt waren, besuchten sie und Berty auch die großen Zirkusse, wo Krüppel nicht als Krüppel bezeichnet wurden. Sie schlossen viele Freundschaften.
    In Florida und den anderen Orten, an denen sie
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