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Monströse Welten 3: Toleranz

Monströse Welten 3: Toleranz

Titel: Monströse Welten 3: Toleranz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sheri S. Tepper
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Gewirr aus Trapezseilen, Pferde mit Federbüschen, Hunde, die auf den Hinterläufen tanzten. Mulhollan hatte mit Ölfarben bemalte Clowns und eine menschliche Spinne mit einer furchterregenden Maske und ballonartigen Hose. Dann gab es noch Sizzys Souvenirbude, deren Dach rot und schmutzigweiß gestreift war und deren wacklige Wände mit abblätternden Silbersternen verziert waren. Die Regale waren mit allerlei Kitsch bestückt: Trillerpfeifen in Gestalt von Vögeln, Kaffeetassen mit Clownsgesichtern, silberne Kappen mit Hörnern und Ohren, Plastikbumerangs und Frisbees, winzige hölzerne Akrobaten, die sich um eine Leiter schwangen, wenn man die Holme zusammendrückte, Aschenbecher mit Abbildungen von Hunden und Schlangenbeschwörern sowie der Aufschrift MULHOLLANS ZAUBER-ZIRKUS in schwungvollen Lettern.
    Mulhollans Zirkus war auch Sizzys Zirkus, wo sie vor langer Zeit Zuflucht vor den Erinnerungen der Kleinstadt gefunden hatte, vor den bigotten Verwandten, Priestern, Nonnen und anderen Leuten, mit denen sie zurechtkommen mußte. Mulhollans Zirkus war Sizzys Zirkus, wo weder sie noch die Zwillinge über ihre Biographie Rechenschaft ablegen mußten.
    »Was sollen wir hier?« fragte Bertran und schaute sich ebenso beeindruckt wie erstaunt um, wobei er von einem bisher unbekannten Gefühl der Aufregung ergriffen wurde, das er jedoch nicht als freudige Erregung identifizierte.
    »Ihr werdet als Nebenattraktion auftreten«, sagte seine Tante. »Ihr werdet mit den euch zur Verfügung stehenden Mitteln euren Lebensunterhalt verdienen, bis ihr groß seid und vielleicht getrennt werden könnt. Und dann könnt ihr tun, was ihr wollt.«
    »Ich glaube nicht, daß Kinderarbeit legal ist«, sagte Nela ohne rechte Überzeugung. Sie fühlte das, was Bertran fühlte und wußte genauso wenig wie er, was ihnen bevorstand.
    »Ihr werdet auch nicht arbeiten«, sagte Sizzy. »Ihr werdet euch angezogen auf eine Bühne stellen. Nachdem jeder euch gesehen hat, werden wir einen Vorhang zwischen euch herunterlassen, und die weiblichen Zuschauer können einen Blick auf Nela werfen, und die Männer können einen Blick auf Bertran werfen. Für fünf Dollar extra.«
    »Sie sollen mich nackt sehen?« rief Nela mit einem wohligen Schauder.
    »Nackt«, sagte Sizzy. »Nur ein kurzer Blick.«
    »Sie hat aber Haare auf der Brust«, sagte Bertran.
    »Dagegen haben wir ein Mittel«, verkündete die Tante leichthin. »Und heißes Wachs und vielleicht sogar Elektrolyse.«
    »Sie hat kaum Busen.«
    »Dann bekommt sie eben Implantate«, sagte Tante Sizzy ungerührt. »Schaut, Kinder, ihr müßt praktisch denken. Niemand will die Verantwortung für euch übernehmen. Niemand wußte etwas mit euch anzufangen, nicht einmal meine arme, närrische Schwester. Hier hat euer Leben wenigstens einen gewissen Sinn, nicht wahr? Und auch ein paar Freuden, darauf wette ich. Maria war meine Lieblingsschwester. Sie hatte zwar nicht viel Verstand – keins von Mamas Kindern, die sie mit über vierzig bekam, hatte viel Verstand –, aber sie hatte ein gutes Herz. Ich bin es ihr schuldig, dafür zu sorgen, daß ihr etwas Freude habt. Spaß, ihr versteht?«
    Sie verstanden nicht, aber sie lernten es. Nach dem anfänglichen Schock war es gar nicht mehr so schlimm. Es war sogar gut. Das Beste war das geschäftsmäßige Ambiente des Zirkus. Nach all den Jahren der Belastungen und der Gebete war das Zirkusleben vernünftig und akzeptabel. Kein Kichern. Niemand, der mit dem Finger auf sie zeigte. Keine verkrampften Drei-Parteien-Gespräche im Beichtstuhl. Keinen Streit wegen der Benutzung des Bads. »Hallo, Berty. Hallo, Nela«, sagte der Clown. »Wollt ihr Kinder endlich zum Essen kommen oder was! Kommt, bevor ich es wegschütte«, rief der Koch. »Probiert eure neuen Kostüme noch heute vormittag an, damit ich sie für die Abendvorstellung fertig habe«, sagte Mrs. Mangini. Die Manginis führten eigentlich die Trapez- und Pferdenummern vor, doch weil Mrs. Mangini zu dick war, um zu reiten oder durch die Luft zu wirbeln, erledigte sie Näharbeiten für den Zirkus.
    Die Zwillinge schliefen auf einem neuen Klappbett in Tante Sizzys Wohnwagen. Sie hatten einen Rauhhaardackel namens Flip, der auch Kunststückchen in der Clownsnummer vorführte. Zur Nebenattraktion gehörte auch Ralph, der eine behaarte Nase hatte, lebendige Hühner verspeiste und als Wolfsjunge tituliert wurde. Dann gab es Sappho und Archimedes Lapin, die als die kleinsten Menschen der Welt ausgegeben wurden, obwohl sie

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