Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
oder bist du einfach nur zu geizig?«
Henriette zuckte angesichts dieser unverblümten Beleidigung zurück und wechselte den Tonfall. Ihr war klar geworden, dass sie nicht in der Position war, zu verhandeln. Sie hatte keinen einzigen Trumpf im Ärmel. Sie war auf diesen ungebildeten Wabbelbauch angewiesen.
»Einverstanden, du ekliges Balg! Lass uns mit offenen Karten spielen. Ich verabscheue dich, du verabscheust mich, aber du kannst mir von Nutzen sein, und ich kann dir von Nutzen sein. Also schließen wir einen Pakt: Du lässt mich weiter im Internet surfen, und ich mache, zusätzlich zu dem Geld, das ich dir zahle, auch deine Hausaufgaben … Was hältst du davon?
Kevin Moreira dos Santos musterte sie nachdenklich, und in seinem rechten Auge glomm ein Funken Respekt auf. Die Alte war knallhart. Die ließ sich nicht so leicht aus der Fassung bringen. Und von nun an würde er sie nicht nur heimlich, still und leise ausnehmen können, nein, sie würde darüber hinaus auch noch seine ganzen bescheuerten Hausaufgaben übernehmen, von denen er nichts kapierte und die ihm von seiner Mutter heftigste Vorwürfe und von seinem Vater regelmäßig Ohrfeigen und die Drohung einbrachten, ihn im nächsten Jahr auf ein Internat zu schicken.
»Alle meine Hausaufgaben«, präzisierte er und klopfte auf die Leertaste seiner Tastatur. »Grammatik, Rechtschreibung, Geschichte, Mathe, Erdkunde und so weiter …«
»Alles außer Blockflöte und bildende Kunst, darum kümmerst du dich gefälligst selbst.«
»Und du verpetzt mich nicht bei meinen Alten? Du beschwerst dich nicht darüber, dass ich unhöflich zu dir bin und dich respektlos behandle …«
»Darauf pfeife ich! Es geht hier nicht um Zuneigung, sondern um einen Austausch von Fähigkeiten. Leistung und Gegenleistung …«
Kevin Moreira dos Santos zögerte. Er fürchtete Ärger. Spielte mit der zu einem blassen Hahnenkamm hochgegelten Strähne auf seinem runden Kopf. Sein Verstand, der so träge war, wenn es darum ging, die Funktionen von Substantiv und Adjektiv oder die Teilung einer dreistelligen Zahl zu verstehen, wog rasend schnell das Für und Wider ab und kam zu dem Schluss, dass dieser Deal ihm nur Vorteile bringen würde.
»Okay, du alte Schreckschraube. Ich schieb dir heimlich meine Hausaufgaben rüber, und du bringst sie mir jeden Abend zurück und tust so, als würdest du mir Nachhilfe geben … Meine Eltern werden dich super finden und nichts davon mitkriegen, und meine Noten kriegen wieder die Kurve! Aber glaub ja nicht, du kämst dafür jetzt gratis an den Computer!«
»Nicht einmal ein kleiner Nachlass?«, erkundigte sich Henriette, ein demütiges Flehen mimend. Ihre flach nach vorn geschobenen Lippen erinnerten an einen durchtriebenen Händler aus einem arabischen Souk.
»Das hättest du wohl gern! Zeig erst mal, was du draufhast, und wenn alles gut läuft, denk ich noch mal über meine Preise nach … Aber vergiss nicht, ich bin der Boss, nicht du!«
Und so kam es, dass Henriette am Heiligen Abend im Schein einer Kerze über die Larousse-Grammatik mit dem grünen Einband und dem unverständlichen Inhalt gebeugt saß.
Wie soll ich diesem fettleibigen Trottel bloß etwas beibringen?, fragte sie sich, während sie versuchte, ein Haar auszureißen, das auf ihrem Leberfleck gewachsen war. Der Geist dieses Jungen ist eine Wüste … Nicht der kleinste Stamm, an dem man eine Hängematte festbinden könnte! Nicht das geringste Fundament, auf das ich aufbauen könnte. Ich muss von Grund auf neu anfangen! Dabei habe ich ja auch noch anderes zu tun …
Denn sie hatte einen Plan! Und was für einen Plan!
Wie eine Feuerzunge war er über ihrem Kopf aufgeflammt, als sie sich in der Kirche Saint-Étienne vor der Jungfrau Maria verneigt hatte.
Der verschlagene Judas war es, der sie auf den Gedanken gebracht hatte. Judas mit seinen nackten, schmalen, sehnigen Füßen in den Römersandalen, Judas in dem langen, roten Gewand, mit dem ausgezehrten Gesicht, Judas … das war Chaval! Deshalb konnte sie, als sie diese Szene der Passion Christi betrachtete, den Blick nicht vom düsteren Gesicht des Verräters abwenden. Chaval, der zynische, schneidige Chaval, der früher in Marcel Grobz’ Firma gearbeitet und dann gekündigt hatte, um zu einem Konkurrenten zu gehen … Ikea, glaube ich, erinnerte sich Henriette. Chaval, der Cabrio fuhr, sich die Beine von Frauen um den Hals schlang, sie vögelte und sie dann auf der Motorhaube seines Wagens liegen ließ. Er verfügte
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