Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
Klavierspielen zählen nicht die Finger und auch nicht die Übungen, die man dich jeden Tag absolvieren lässt. Was wirklich zählt, ist der Bauch, das Innere … Selbst wenn du zehn Finger an jeder Hand hättest, ohne ein Herz, das bereit ist, zu bluten, zu flüstern und zu explodieren, bringt dir die ganze Technik nichts … Man muss klingen, man muss seufzen, man muss in Rage geraten, das Herz mit seinen zehn Fingern zum Tanzen bringen. Nicht brav sein! Niemals brav sein!«
Er stand auf, bekam keine Luft mehr, rang nach Atem, hustete, zog ein langes Taschentuch aus der Tasche, wischte sich damit über Stirn, Nase und Kehle und befahl: »Und nun lass dein Herz wieder bluten …«
Gary legte die Finger auf die Tasten und spielte ein Impromptu von Schubert. Der alte Kloussov fiel zurück auf seinen Stuhl und schloss die Augen.
Es kamen nur selten Kunden, aber das schien ihn nicht zu stören. Gary fragte sich, wovon er lebte.
Mittags ging er zur Levain Bakery und aß meat sandwiches , seine Lieblingssorte war Putenbrust-Gurke-Gruyère-Dijonsenf auf frischem Baguette. Er aß gleich zwei davon hintereinander, und ihm lief dabei so viel Speichel aus dem Mund, dass das Mädchen hinter der Theke lachen musste. Er sah ihr zu, wie sie den Teig für die Cookies knetete, und wollte das auch lernen. Sie zeigte es ihm. Er lernte es so gut, dass sie ihm anbot, nachmittags bei ihr zu arbeiten. Sie brauchte eine Aushilfe zum Kneten. Sie würde ihn dafür bezahlen. Er hatte keine Arbeitserlaubnis, also zeigte sie ihm, wie er durch die Hintertür verschwinden konnte, falls jemand von der Ausländerbehörde auftauchen sollte. Aber uns passiert nichts, fügte sie hinzu, wir sind berühmt, wir waren schon bei Oprah Winfrey … Aha, sagte er und nahm sich vor, herauszufinden, wer diese Oprah Winfrey war, vor der sogar die Polizei Respekt hatte.
Allmählich nahmen seine Tage Struktur an. Klavier spielen, Teig kneten und abends Liz’ breites Lachen und ihr grün-blauer Pony unter den weißen Laken. Der seltsame Knopf in ihrer Zunge, wenn sie sich küssten …
Er fand Freunde auf seiner täglichen Strecke.
Als er eines Tages vor Brooks Brothers in der 65th Street zwischen Broadway und Central Park West vorbeikam, sah er, dass es ein Angebot gab: Drei Hemden zum Preis von einem! Er überwand sich, auf der Juilliard würde er sie brauchen. Und dazu noch bügelfrei! Man ließ sie auf einem Kleiderbügel trocknen, und es gab keine Falten. Er ging hinein. Wählte zwei weiße und ein blau-weiß gestreiftes. Der Verkäufer hieß Jerome. Gary fragte ihn, warum er einen französischen Vornamen habe. Er antwortete, dass seine Mutter Fan von Jerome David Salinger gewesen sei. Ob er den Fänger im Roggen gelesen habe? Nein, antwortete Gary. Tja … das bedeutet, du weißt nicht, was gut ist, erklärte Jerome, der später zugab, dass alle seine Freunde ihn Jerry nannten. Und um noch eins draufzusetzen, erkundigte er sich, ob Gary den Maler Gustave Caillebotte kenne. Ja!, antwortete dieser stolz. Dann kennst du auch das Musée d’Orsay in Paris? Natürlich, dort ich bin oft gewesen, ich habe nämlich in Paris gelebt, sagte Gary, und er hatte das Gefühl, ein paar Punkte gutzumachen. Diesen Sommer, sagte der Junge, fliege ich nach Paris und gehe ins Musée d’Orsay, denn ich bin ein Riesenfan von Gustave Caillebotte, ich finde, sein Talent wird enorm unterschätzt … Alle reden immer von den Impressionisten, aber nie von ihm. Und er stürzte sich in ein Plädoyer für diesen Maler, den die Franzosen lange gering geschätzt hatten und der zu Lebzeiten nur in den Vereinigten Staaten erfolgreich gewesen war.
»Er hat einen unserer größten Maler beeinflusst … Edward Hopper … Und es war ein amerikanischer Sammler, der fast alle seine Gemälde gekauft hat. Kennst du Straße in Paris, Regenwetter ? Ich bin total begeistert von diesem Bild …«
Gary nickte, um seinen neuen Bekannten nicht zu enttäuschen.
»Es hängt in einem Museum in Chicago. Ein Meisterwerk … Er war ein außergewöhnlicher Sammler. Als er starb, vermachte er dem Staat siebenundsechzig Bilder, Degas, Pissarros, Monets, Cézannes, aber der französische Staat hat sie abgelehnt! Man fand sie ›unwürdig‹. Kannst du dir das vorstellen? Was für eine Einstellung!«
Jerome wirkte empört.
Gary war beeindruckt, und Jerome wurde ein Freund.
Na ja … zumindest ein Kumpel, den er grüßte, wenn er morgens an dem Geschäft vorbeikam. Jerome saß auf einem Hocker hinter der
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