Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
Ich will nicht auf die École Polytechnique.
Heute wird sich mein Leben verändern. Ich betrete eine neue, eine berauschende Welt, die Welt des Films. Zu Hause ersticke ich. Ich ersticke. Es kommt mir vor, als wüsste ich jetzt schon, wie mein Leben aussehen wird. Als hätten meine Eltern alles für mich entschieden. Was ich tun werde, wen ich heiraten werde, wie viele Kinder ich haben werde, wo ich wohnen werde, was ich sonntags essen werde … Ich will keine Kinder, ich will keine Frau, ich will nicht auf eine Eliteuniversität. Ich will etwas anderes, aber ich weiß nicht, was … Wer weiß, was mir dieses Abenteuer bringen wird? Einen Beruf, eine Liebe, Freuden, Enttäuschungen? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass man mit siebzehn noch alles hoffen darf, also erhoffe ich mir alles und noch mehr.«
Die Schrift war steil und hoch, doch manche Wortenden zogen sich zusammen wie verkrüppelte Pfoten. Sie erinnerten an amputierte Stümpfe. Es tat beinahe weh beim Lesen. Das Papier war vergilbt und fleckig. Bei manchen Wörtern war die Tinte ausgebleicht, was das Entziffern schwierig machte. In der Mitte des Heftes waren ganze Seiten zu einem festen Block zusammengeklebt, und man konnte sie nicht aufschlagen, ohne Angst haben zu müssen, sie zu zerreißen. Man musste vorsichtig und langsam zu Werke gehen, wollte man nicht die Hälfte des Textes verlieren.
Als Joséphine die erste Seite umblätterte, um weiterzulesen, musste sie behutsam ziehen, denn die Blätter hafteten aneinander.
»Bis jetzt habe ich nicht gelebt. Ich habe gehorcht. Meinen Eltern, meinen Lehrern, dem, was sich zu tun gehört, was sich zu denken gehört. Bis jetzt war ich ein stummes, wohlerzogenes Spiegelbild. Niemals ich selbst. Ich weiß überhaupt nicht, wer ›ich‹ ist. Es ist, als wäre ich mit einem fertigen Anzug geboren, in den ich nur noch hineinschlüpfen musste … Dank dieses Nebenjobs werde ich vielleicht endlich herausfinden, wer ich bin und was ich vom Leben erwarte. Ich werde wissen, wozu ich fähig bin, wenn ich frei bin. Ich bin siebzehn Jahre alt. Also ist es mir herzlich egal, dass ich nicht dafür bezahlt werde. Ein Hoch auf das Leben! Ein Hoch auf mich! Zum ersten Mal erhebt sich in mir ein Gefühl der Hoffnung … und dieses Gefühl tut verdammt gut …«
Es war ein Tagebuch.
Wieso lag es in einer Mülltonne? Wem gehörte es? Jemandem aus dem Haus, sonst wäre es nicht dorthin gelangt. Und warum hatte dieser Jemand es weggeworfen?
Joséphine schaltete das Raumlicht ein und setzte sich auf den Boden. Ihre Hand rutschte über eine Kartoffelschale, die an ihrer Handfläche kleben blieb. Angewidert zog sie sie ab, wischte die Hand an ihrer Jeans sauber und las, mit dem Rücken gegen eine große Tonne gelehnt, weiter.
»28. November 1962. Ich bin ihm endlich begegnet. Cary Grant. Der zweite Hauptdarsteller des Films, neben Audrey Hepburn. Er ist so attraktiv! Und witzig. Und so vollkommen ohne Allüren. Wenn er einen Raum betritt, füllt er ihn vollständig aus. Um ihn herum nimmt man nichts anderes mehr wahr. Ich hatte dem Chefbeleuchter einen Kaffee gebracht, für den er sich nicht einmal bedankt hatte, und schaute bei der Szene zu, die gerade gedreht wurde. Sie drehen nicht in chronologischer Reihenfolge. Außerdem drehen sie nur eine oder zwei Minuten, dann sagt der Regisseur, Cut!, sie diskutieren über irgendwas, ein winzig kleines Detail, dann fangen sie wieder von vorn an, und das mehrmals hintereinander. Ich weiß nicht, wie sich die Schauspieler da noch zurechtfinden … Ständig müssen sie von einem Gefühl zum anderen wechseln oder die gleichen Gefühle auf unterschiedliche Weise darstellen. Und dabei auch noch natürlich wirken! Cary Grant war verärgert, weil er fand, dass seine Ohren im Gegenlicht so groß und rot aussähen! Sie mussten ihm blickdichtes Klebeband hinter die Ohren kleben, und wer sollte im Handumdrehen blickdichtes Klebeband auftreiben? Ich. Und als ich mit der Rolle in der erhobenen Hand zurückkam, ganz stolz, weil ich sie so schnell gefunden hatte, da hat er sich bei mir bedankt und hinzugefügt, wer würde meine Figur mit solch riesigen, roten Ohren schon attraktiv finden, was, my boy ?
So nennt er mich. My boy . Als schaffe er eine Verbindung zwischen uns. Als er mich zum ersten Mal so genannt hat, bin ich zusammengezuckt, ich dachte, ich hätte mich verhört! Und dabei hat er mir auch noch direkt in die Augen geschaut, so freundlich und voller Interesse … Ich war völlig
Weitere Kostenlose Bücher