Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)

jedes noch so kleine Detail. Er prüft alles ganz genau, die Kostüme – sogar die der Statisten –, die Kulissen, die Dialoge und lässt sie umarbeiten oder neu schreiben, wenn er nicht damit einverstanden ist. Das kostet die Produzenten ein Vermögen, und manche Leute schimpfen hinter seinem Rücken, dass er nicht so anspruchsvoll wäre, wenn er das alles selbst bezahlen müsste, womit sie andeuten wollen, dass er knauserig sei … Er ist nicht knauserig. Er hat mir ein sehr schönes Hemd von Charvet geschenkt, weil er fand, der Kragen meines eigenen Hemds sei zu kurz. Ich trage es ständig. Ich wasche es selbst am Becken mit Seife. Meine Eltern sagen, es gehöre sich nicht, Geschenke von Fremden anzunehmen, sie sagen, dieser Film verdrehe mir den Kopf, und es werde höchste Zeit, dass ich mich auf mein Studium konzentriere … Ich lerne Englisch, erwidere ich darauf, ich lerne Englisch, und das wird mir mein Leben lang nützlich sein. Sie sagen, sie könnten sich nicht vorstellen, inwiefern mir Englisch auf der École Polytechnique weiterhelfen könne.
    Ich will nicht auf die École Polytechnique …
    Ich will nicht heiraten. Ich will keine Kinder haben.
    Ich will …
    Ich weiß noch nicht, was ich sein will …
    Er ist besessen von seinem Hals. Er lässt sich alle Hemden nach Maß anfertigen, und zwar mit einem besonders hohen Kragen, um seinen Hals zu verstecken, weil er ihn zu dick findet … Seine Anzüge werden in London geschneidert, und wenn er sie bekommt, nimmt er einen Zollstock und vergewissert sich, dass alle Maße stimmen!
    Er hat mir erzählt, dass er bei seinen ersten Probeaufnahmen für ein großes Studio – den Namen weiß ich nicht mehr, ach doch, Paramount … – wegen seines Halses und seiner krummen Beine abgelehnt wurde! Und man fand ihn zu pausbackig! Wie peinlich! Das war unmittelbar vor dem Börsencrash von 1929. Die Theater in New York schlossen eines nach dem anderen, und er stand plötzlich auf der Straße. Gezwungen, als Sandwichmann auf Stelzen für ein chinesisches Restaurant Werbung zu laufen! Und abends arbeitete er, um Geld zu verdienen, als escort boy . Er begleitete alleinstehende Frauen und Männer auf Partys. So hat er sein elegantes Auftreten gelernt …
    Während seiner Zeit in New York war er arm und einsam. Das änderte sich, als er mit achtundzwanzig nach Hollywood ging. Aber bis dahin, hat er lächelnd gesagt, waren es wirklich harte Zeiten … Zehn Jahre lang nur kleine Jobs, Ablehnungen, ohne zu wissen, wo er schlafen und was er essen sollte. Du weißt nicht, wie das ist, my boy … was? Und ich schämte mich ein bisschen für mein geregeltes, durchorganisiertes Leben.
    Nach und nach werde ich alles über sein Leben erfahren …
    Er nennt mich immer noch my boy , und das gefällt mir sehr …
    Es wundert mich, dass er sich für mich interessiert. Er sagt, er mag mich. Er sagt, ich sei anders als die amerikanischen Jungen. Er möchte, dass ich ihm von meiner Familie erzähle. Er sagt, dass man häufig Menschen heiratet, die den eigenen Eltern ähneln, und dass man das unbedingt vermeiden soll, weil sich die Geschichte sonst immer wiederholt und es niemals ein Ende nimmt.
    15. Dezember.
    Er erzählt mir oft von seinen ersten Jahren in New York, als er vor Hunger fast umkam und keine Freunde hatte.
    Eines Tages traf er einen Bekannten, dem er sein Herz ausschüttete. Dieser Bekannte, er hieß Fred, nahm ihn mit auf die Spitze eines Wolkenkratzers. Es war ein regnerischer, kalter Tag, und man konnte keine zehn Meter weit sehen. Fred erklärte ihm, dass hinter diesem Nebel ganz sicher eine wunderbare Landschaft liege, und bloß, weil sie sie nicht sähen, bedeute das noch lange nicht, dass sie nicht existiere. Dem Leben zu vertrauen, fügte er hinzu, bedeutet, ganz fest daran zu glauben, dass sie existiert und dass irgendwo hinter dem Nebel ein Platz für dich ist. Im Moment denkst du, du seist ganz klein und bedeutungslos, aber irgendwo hinter all diesem Grau ist ein Platz für dich bestimmt, an dem du glücklich sein wirst … Also beurteile dein Leben nicht nach dem, was du heute bist, beurteile es mit Blick auf diesen Platz, den du irgendwann einnehmen wirst, wenn du ernsthaft und aufrichtig danach suchst …
    Er hat mir gesagt, das solle ich mir gut merken.
    Ich habe mich gefragt, wie das funktionieren soll. Man braucht bestimmt viel Willenskraft und Fantasie dazu. Und Selbstvertrauen. Alles andere verweigern, bis man seinen Platz findet. Aber das ist riskant …