Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
lag, an seine Frau dachte, die ermordet worden war, oder an Poppy, die im Gefängnis saß, oder an Nevada? Nevada meinte, die Energie zwischen ihnen sehen zu können, heiße, pulsierende, blutrote Wellen, Funken sprühten zwischen ihnen, hell und klar.
«Ich hab was für dich», sagte Marie und wühlte in ihrer großen Tasche. Am runden Tisch in der Mitte hielt Gion Hof. Marie schaute immer wieder zu ihm hinüber. Er hatte schon mehrmals ungeduldig gewinkt. Er wollte sie bei sich haben. Obwohl er von jungen, zartgliedrigen, gelenkigen Yogaschülerinnen in tief ausgeschnittenen Tops umringt war, die ihre langen Beine über die Stuhllehnen drapierten und an seinen Lippen hingen. Trotzdem wollte er sie, Marie, an seiner Seite haben. Er hatte ihr sogar einen Stuhl freigehalten. Sie zog einen gelben Umschlag aus ihrer Tasche und reichte ihn Nevada, die ihn gleichgültig nahm und zur Seite legte.
«Ich hab dir ein paar Artikel kopiert», sagte Marie, schon im Gehen. «Es gibt interessante neue Studien.»
«Studien?», fragte Wolf. «Studien worüber?»
Marie schaute Nevada an, und Nevada schüttelte den Kopf. Sie steckte den Umschlag in ihre Tasche. «Danke», sagte sie abschließend, und endlich ging Marie zum runden Tisch hinüber. Gion klatschte anerkennend mit der flachen Hand auf ihr Hinterteil, die Yogagazellen erschauerten, Marie setzte sich auf den ihr zugewiesenen Platz. Sie behielt Nevada im Blickfeld, die sie wiederum sofort vergessen hatte.
«Ich bin gern mit dir allein», sagte Nevada zu Wolf. Keine Zeit für Spielchen, sagte ihr Körper. Komm zur Sache.
«Ich auch», sagte Wolf. Er langte mit beiden Händen über den Tisch. Nevadas Hände schlüpften in seine. Ja, sagte die Haut. Ja, ja, ja.
«Warst du bei Poppy?», fragte Wolf. «Wie wirkte sie auf dich?»
Nevadas Hände wurden kleiner in seinen. Sie atmete tief ein. «Sie wirkte erstaunlich gelassen», sagte sie schließlich. «Weniger fahrig, als ich sie sonst erlebe. Weniger zerstreut. Wenn es nicht unsinnig klingen würde, würde ich sagen, die Gefangenschaft bekommt ihr.»
Wolf zog seine Hände zurück und legte sie über seine Augen. «Alles ist verkehrt», sagte er. «Alles ist falsch. Verkehrt.»
Nevada nickte. Sie wusste genau, was er meinte. Hier saßen sie, durch einen Tisch getrennt, obwohl sie doch zusammengehörten. Samadhi , dachte sie, mit dem Objekt der Beobachtung verschmelzen. Patanjali hatte damit vermutlich nicht diesen Mann gemeint, sondern ein philosophisches Konzept, aber egal. Nevada wusste, was sie wollte. Es gab nichts anderes mehr als diesen Mann, diese Augen, diese Hände. Und den Tisch, der zwischen ihnen stand. Und auf dem Tisch, zu einem unüberwindbaren Hindernis getürmt: der Mord an seiner Frau, Poppy, die unschuldig im Gefängnis saß. Niemand, nicht der skrupelloseste Mensch der Welt konnte über dieses Hindernis springen, über diesen Tisch, in seine Bestimmung hinein, die Nevadas Arme waren. Niemand, und schon gar nicht Wolf, der rein war und gut. Nevada verstand alles und liebte ihn nur noch mehr.
«Es wird nicht so bleiben», sagte sie. «So verkehrt. Das verspreche ich dir. Wir werden es richten, du und ich, zusammen.»
«Aber wie», seufzte Wolf. «Wie?» Er ließ seine Hände wieder sinken und schaute sie durch die dicken Brillengläser hindurch an, seine Augen waren vergrößert und leicht verzerrt. Er schaute verzweifelt. «Wie kann es je wieder richtig sein?», fragte er. «Kim ist tot. Ich habe sie in die Schweiz geholt, wo sie unglücklich war und wo sie erschlagen wurde wie ein Hund, und in den Fluss geworfen. Wie kann das je wieder gerichtet werden? Und Poppy, die einzige Frau, die ich je geliebt habe, sitzt im Gefängnis. Wegen mir. Weil sie mich liebt. Sag mir, Nevada, wer kann das wieder richten? Ich nicht. Du?»
Die einzige Frau? Die einzige Frau, die du je geliebt hast? Das muss er sagen, dachte sie. Das muss er sagen, er kann das Unrecht kaum ertragen, er kann nicht noch eine Schuld auf diesen Haufen legen, seine Liebe zu mir. Ich verstehe alles, dachte Nevada.
«Vertrau mir», sagte sie. «Du bist ein guter Mensch. Es wird alles richtig kommen.»
«Aber wie?»
«Ist das nicht offensichtlich? Wir müssen den wahren Mörder deiner Frau finden. Und vor Gericht bringen. Dann wird Poppy freigelassen. Dann könnt ihr euch endlich wirklich mit eurer Geschichte auseinandersetzen und entscheiden, ob und wie es weitergeht.»
Geduld, dachte Nevada. Sie würde geduldig sein müssen. Ihre
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