Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
diesen Mann, alles andere ist mir im Moment ziemlich egal. Tut mir leid.
Während ihrer Ausbildung hatte sich Nevada mit einer viel strengeren und unzugänglicheren Übersetzung des Yoga Sutra von Patanjali herumgeschlagen und sich mehr als einmal gefragt, was diese verschwurbelten Verse mit ihrem Leben zu tun hatten. Trotzdem hatte sie sie studiert, sie war eine fleißige Schülerin, und wenn sie etwas nicht verstand, suchte sie den Fehler erst einmal bei sich. Die Übersetzung von TKV Desikachar hatte sie als zu einfach abgetan, zu großzügig, als sie sie das erste Mal las. Doch jetzt war sie krank. Sie konnte es sich nicht mehr leisten, den Fehler bei sich zu suchen. Sie hatte keine Zeit mehr dafür. Und keine Möglichkeit, sich zu verbessern. Sie brauchte Hilfe.
Wolf kam als einer der Ersten herein. Sein Blick suchte ihren. Natürlich tat er das. Sie lächelte. Er nahm sich eine Matte vom Stapel und rollte sie direkt vor ihr auf. Sie saßen sich gegenüber, als gäbe es nur sie beide, während sich das kleine Studio langsam füllte. «Hast du nach der Stunde Zeit für einen Kaffee?» Er runzelte die Stirn. «Oder Tee oder …»
«Natürlich», sagte Nevada. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Acht Schüler, einer mehr als letzte Woche. Alle hatten sie ihre Schulhefte mitgebracht, und die Sutrabücher mit dem Kommentar von TKV Desikachar. Kein Vergleich mit den vierzig, fünfzig Schülern, die ihre Asana -Klassen besucht hatten. Trotzdem. Sie war nicht allein.
Marie war da. Ted fehlte. Hatte ihm die Stunde nicht gefallen, war sie zu wenig körperlich, zu wenig anstrengend gewesen? Hatte er sich bei einer anderen Lehrerin angemeldet, besuchte er gar den Männerkurs von Sebastian? Nevadas Gedanken begannen zu kreisen. Zwölf Schüler brauchte sie, um die Studiokosten zu decken. Wenn sie diese Zahl nicht bald erreichte, würde Lakshmi ihr diese Stunde streichen. Citta vrtti , dachte Nevada, citta vrtti … Sie konnte sie nicht abstellen, diese Zuckungen des Geistes.
«Wie erreichen wir den Zustand von Yoga?», fragte sie. «Die Antwort ist einfach: Wir üben.» Marie lachte leise. Nevada warf ihr einen dankbaren Blick zu. «Klingt einfacher, als es ist. Ich weiß. Die Sutren 1.12, 1.13 und 1.14 befassen sich damit.» Sie begann zu singen: « Abhyasavairagyabhyam tannirodah .» Sie ließ ihre Schüler diese Zeile wiederholen, bis die Konzentration auf die genaue Wiedergabe die letzten Gedankenspiralen aufgelöst hatte. «Diesen Zustand nirodah, das Stillwerden des Geistes, erreicht man durch konsequentes Üben und durch Gelassenheit. Es braucht beides. Der letzte Teil ist wichtig, der wird oft vergessen, ich habe ihn selbst jahrelang vernachlässigt: Gelassenheit, Loslassen, das heißt, dass man sich keine konkreten Vorstellungen von dem macht, was man erreichen will.»
Plötzlich ging die Tür auf, und Ted kam herein. Er blickte schuldbewusst auf die Uhr an der Wand. Nevada dachte an Shri Jenny, die auf absoluter Pünktlichkeit bestanden hatte. Ein Konzept, das sie von ihrem indischen Guru übernommen hatte: Wer nicht pünktlich kommt, meint es nicht ernst. Und kann es morgen noch einmal versuchen. Nevada hatte an diesem Prinzip festhalten wollen, doch Lakshmi fand es geschäftsschädigend. «Das entspricht einfach nicht der Realität unserer Schüler», hatte sie gesagt. «Das sind moderne Menschen, immer im Stress, die rennen jeden Tag denselben zehn Minuten nach. Und diese zehn Minuten sollen sie hier wieder finden, bei uns. Außerdem ist es besser, man kommt zu spät zum Yoga als gar nicht!»
Da Nevada pro Kopf bezahlt wurde, protestierte sie nicht gegen diese Regelung. Doch sie hasste die Unterbrechungen, das stetige Kommen und Gehen während der ganzen Stunde. Viele Schüler legten sich gar nicht mehr zur Endentspannung hin, sondern verließen den Raum vorher, sie rollten ihre Matten zusammen, stiegen über die Liegenden hinweg und unterhielten sich im Foyer so laut, dass Nevada es im Studio hören konnte. Sie stellte sich immer vor, wie das Geschwätz in die entspannten Köpfe der Liegenden drang. Sie wollte ihnen die Ohren zuhalten. Sie wollte diese Köpfe schützen.
Ted hatte seine eigene Matte mitgebracht und rollte sie nun ganz hinten in der Ecke aus. Sein Buch und sein Schulheft legte er daneben.
Sie nickte ihm zu. «Es gibt ja verschiedene Legenden über den schlangenköpfigen Weisen Patanjali», sagte sie. «Man sagt zum Beispiel, dass die Yogini Gonika, die in absoluter Einsamkeit
Weitere Kostenlose Bücher