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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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Krankheit musste warten. Ihr Körper durchhalten. Siehst du, wie gut ich dich verstehe, siehst du, wie sanft ich bin? Bei mir kannst du sein, wer du bist, du kannst Angst haben, du kannst verzweifeln, ich fange alles auf. Noch sind meine Arme stark genug. Sie stand auf und ging um den Tisch herum. Als sie sich neben ihn setzte, wich er zur Seite. Sie ließ sich nicht abschrecken. Sie rückte ihren Stuhl ganz nah an seinen. Ihr Bein neben seinem, vom Knöchel bis zum Knie, ihre Oberschenkel berührten sich. Ihre Schultern. Schließlich hob sie den Arm und legte die Hand auf seinen Rücken, als wollte sie ihn nach vorne schieben. Samadhi, dachte sie, wir sind eins.
    «Ich muss», sagte er und stand auf.
    Nevada blieb noch eine Weile sitzen. Sie sah aus dem Fenster und sah ihn zu seinem Auto gehen, den Kopf gesenkt, den Rücken gebeugt. Sie wollte ihre Hand wieder da hinlegen, zwischen seine Schulterblätter, ihn aufrichten, ihn vorwärtsschieben, weg vom Alten, weg von Kim, von Poppy, von Schuld und Sühne. Sie wollte ihn befreien vom «Ich muss».
    Marie winkte vom Nebentisch. Nevada richtete sich auf. Ihre rechte Seite fühlte sich roh an, als hätte Wolf ein feines Messer benutzt, um sich von ihr zu lösen, eine scharfe Klinge zwischen sie geschoben, die Haut dabei nur wenig verletzt, aber eben doch. Sie hatten schließlich nur eine Haut, und er hatte sie zerteilt. Jetzt lag sie offen da und wund.
    Marie winkte wieder. Heftiger. Nevada versuchte aufzustehen. Ihr linker Fuß war eingeschlafen, ihr Knöchel knickte ein, sie stolperte, stützte sich auf den Tisch, wischte die Teetasse auf den Boden. Marie war mit einem Schritt bei ihr.
     
Poppy
     
    Ein Nebelhorn tutete. Einmal, zweimal, dreimal. Nein, kein Nebelhorn. Eine Schiffssirene. Das Schiff würde gleich ablegen. Poppy musste an Bord. Sie lief Richtung Hafen, viele Menschen warteten am Quai, winkten zu einem Schiff hinauf, das riesig groß und weiß den Horizont verdeckte. Winzig kleine Menschen winkten zurück. Poppy kämpfte sich durch die Menge, die immer dichter zusammenzuwachsen schien, und da – was machte ihre Mutter hier? Sie riss Poppy am Ärmel zurück, grob, so war sie gewesen, ihre Mutter. Grob.
    «Lass mich los», rief Poppy. «Ich habe keine Zeit!»
    «Keine Zeit?», rief die Mutter. Ihre Finger krallten sich in Poppys Fleisch. «Du hast keine Zeit für mich? Wie kannst du so etwas sagen, Poppe. Du bringst mich noch ins Grab!»
    Da riss Poppy sich los. Du bringst mich noch ins Grab. Du bringst mich noch ins Grab. Die Worte verfolgten sie, sie schlangen sich um ihren Hals, Poppy versuchte sie abzuschütteln, ihre Arme verhedderten sich darin. Doch Poppy rannte weiter und weiter, bis sie endlich den Quai erreichte. Sie musste dieses Schiff erreichen. Doch als sie näher kam, sah sie, dass sich der weiße Koloss schon in Bewegung gesetzt hatte. Es sah aus, als verschiebe sich eine ganze Stadt ins Meer hinaus.
    Poppy wollte weinen. Die Worte ihrer Mutter waren wie Schlingpflanzen um ihren Hals. Sie schaute über ihre Schulter. Richtig. Da stand die Mutter und hielt die Schlingpflanzen wie Zügel in den Händen.
    «Was sage ich, du bringst mich ins Grab», schrie sie. «Du hast mich ins Grab gebracht! Du hast mich umgebracht!» Sie zerrte an den Zügeln.
    Poppy würgte. Sie konnte hören, wie die Menge am Pier verstummte, nach Luft schnappte, sich zu ihr umdrehte, sie anstarrte: Wer war diese Frau, die ihre eigene Mutter umgebracht hatte?
    Und plötzlich saß sie in einem Boot. Einem alten Ruderboot aus Holz. Die Planken waren verwittert, die Ruder zu schmal, am Boden eine Pfütze abgestandenen Wassers, die immer größer wurde. Sie ruderte verzweifelt auf das große Schiff zu. Sie war noch im Hafenbecken, als plötzlich eine dreieckige Flosse auf sie zuschwamm. Ein Hai. Er kam näher. Kalt stieg die Angst in Poppy auf. Sie konnte seinen glatten grauen Leib erkennen. Er schwamm direkt auf das Boot zu. Die Angst würgte Poppy, wie die Worte ihrer Mutter sie gewürgt hatten. Doch sie ruderte weiter. Der Hai tauchte unter ihrem Boot hindurch, das gefährlich schwankte. Plötzlich war das kleine Boot umzingelt von großen und kleinen Haien. Sie waren schnell, umkreisten das Boot, tauchten darunter hindurch. Das große Schiff entfernte sich langsam. Poppy schluchzte, schnappte nach Atem, in ihrem Leben hatte sie noch keine solche Angst verspürt. Doch sie ruderte und ruderte. Sie hörte die Worte ihrer Mutter nicht mehr. Nur noch das Tuten des Schiffes.

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