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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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Und plötzlich hatte sie es erreicht. An der weißen Außenwand hing eine Strickleiter. Poppy zog sich empor, im selben Moment, in dem die Haifische das klapprige Boot zerlegten. Sie kletterte die Leiter hoch, bis sie mannshohe Buchstaben erreichte, den Namen des großen Schiffes: HEIMAT .
    Poppy wachte auf und lachte laut. Sie war wach. Die Angst war im Traum geblieben. Es war vorbei. Diese Angst, die sie jeden Morgen beim Aufwachen an der Gurgel gepackt hatte: Was? Was ist? Was hab ich vergessen? Was muss ich noch? Wie schaff ich das? Diese Angst hatte sie nicht bis ins Gefängnis verfolgt.
    Es gab kein Karussell mehr. Wenn sie sich abends hinlegte und die Augen schloss, wurden hinter ihren Lidern angenehme kleine Filme in freundlichen Farben abgespielt. Sie sah Wolfs liebes verwirrtes Gesicht. Seine Lippen, seine Hände. Sie glitt in ihre Träume wie eine Tänzerin, leichtfüßig und elegant. Sie wachte morgens auf und wusste genau, was sie zu tun hatte. Schritt für Schritt und Tag für Tag dasselbe.
    Als Poppy fünf Jahre alt war, hatte sie sich plötzlich vor einer Straßenampel gefunden, ohne zu wissen, wie sie dahingekommen war. Sie wusste, dass sie allein keine Straßen überqueren durfte, auch nicht auf dem Fußgängerstreifen. Da hatte sie diese kalte Angst zum ersten Mal gepackt. Sie hatte an sich hinabgeschaut und das Znünitäschli an ihrer Seite baumeln sehen. Der Kindergarten! Sie sollte längst dort sein! Wie würde sie den Weg dorthin finden? War sie an ihm vorbeigelaufen, verträumt, in ihre Gedanken versunken? Verzweifelt sah sie sich um. Nichts war ihr vertraut. Poppy begann zu weinen und wurde schließlich von einer Passantin angesprochen, die sie an der Hand nahm und zum Kindergarten brachte. Es war kein weiter Weg. Doch die Kindergärtnerin hatte bereits Poppys Mutter angerufen, und diese hatte zum ersten Mal den Satz gesagt, der sie durch ihre Kindheit führen würde: «Du bringst mich noch ins Grab!» Seit diesem Tag hatte die Angst Poppy nicht mehr verlassen. Erst die Gefängnismauern waren dick genug gewesen, um sie von ihr fernzuhalten. Das Gefängnis war das große Schiff Heimat, dachte Poppy, und dann lachte sie wieder. Konnte man simplere Träume haben? Traumdeutung für Idioten! Das Tuten war verstummt, sie stand auf.
    Sie konnte sich nicht erinnern, je so aufgestanden zu sein. Frisch und ruhig. Poppy fühlte sich, als sei sie angekommen. Als hätte sie ihre Bestimmung gefunden. Dasselbe hatte sie gefühlt, als sie ihren Affenhausblog begonnen hatte. In einem anderen Leben, schien es Poppy. Die Affen waren verstummt, die Lianen hingen verwaist in Poppys Kopf, baumelten sanft im Wind. Poppy wusste, was sie zu tun hatte. Sie stellte sich keine Fragen. Sie war hier, um Wolf zu schützen. Weil sie ihn liebte. Das war alles.
    In der Tasche, die Nevada ihr mitgebracht hatte, hatte sie außer dem Buch auch ein billiges Schulheft gefunden. Eine der Aufseherinnen hatte ihr eine Schachtel Bleistifte besorgt, mit Radiergummis an den Enden. Bei Bedarf würde sie sie für Poppy nachspitzen, denn Spitzer waren in der Zelle nicht gestattet. Konnte man mit einem gutgespitzten Bleistift ein Auge ausstechen? Poppy setzte sich an den schmalen Tisch.
    Sie blätterte in dem Buch. Sie blätterte von hinten nach vorne. Sie fing oft hinten an zu lesen. Zeitungsartikel. Bücher. Das Wichtigste stand meist auf den letzten Seiten. Poppy fand einen Satz: Derselbe Gegenstand erscheint jedem, der ihn wahrnimmt, anders. Das liegt daran, dass der Zustand des Geistes immer wieder ein anderer ist.
    Poppy begann zu weinen. Sie schlug das Heft auf.
    Lieber Florian , schrieb sie. Lieber Lukas.
    Sie war nicht unglücklich darüber, dass sie nur einmal in der Woche telefonieren durfte, und auch dann nur für zehn Minuten. Zehn Minuten konnten sehr lang sein. Auf ihren ersten Anruf hatte Poppy sich vorbereitet, sie hatte geübt, fröhlich zu klingen. Es war seltsam, ihre eigene Stimme zu hören. Sie musste sich selber daran gewöhnen.
    «Es geht mir gut», hatte sie gesagt, «macht euch keine Sorgen.» Doch ihre Söhne hatten nur einsilbig geantwortet. Es war wieder wie kurz nach ihrer Trennung. Sie waren sich fremd. Poppy konnte die Minuten in der Stille zerplatzen hören, eine nach der anderen. Dann übernahm Julia den Hörer und plapperte die verbleibende Zeit zu Tode. «Mach dir keine Sorgen, Poppy, wir haben alles im Griff.» Poppy war erleichtert gewesen, als ihre zehn Minuten um gewesen waren und sie auflegen

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