Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
Emma.»
Tara schaute verwirrt. Sandra presste die Lippen zusammen.
«Du hast zu ihr gesagt, sie sei ein ungewolltes Kind. Ich weiß nicht, wo du das gehört hast …» Tara blickte zu ihrer Mutter, diese starrte das Steuerrad an, das mit gelochtem Lederimitat überzogen war. «… aber ich kann dich beruhigen. Ich kann euch beide beruhigen: Emma ist kein ungewolltes Kind. Und wisst ihr, warum nicht? Es gibt gar keine ungewollten Kinder. Selbst ein Kind, das keine Eltern hat, ist gewollt, von der ganzen Welt gewollt, versteht ihr, jedes Kind ist wichtig für die Welt …» Er verstummte. Was redete er da zusammen! Hatte er sie nicht einschüchtern wollen? Hatte er es Tara nicht mit einer Bemerkung über ihren nicht vorhandenen Vater heimzahlen, hatte er Sandra nicht mit einem Elterngespräch drohen wollen? Stattdessen predigte er wie ein Jesusfreak. Als Nächstes würde er sich mit seiner Gitarre an den Straßenrand stellen und «Gott ist die Liebe» singen!
Obwohl: so unangenehm war diese Vorstellung nicht. Er schüttelte den Kopf, lachte leise und sagte dann: «Das Leben ist schön, und alles ist gut!» Wenn er schon dabei war.
Emma machte sich von ihm los. Sie ging ein paar Schritte voraus Richtung Schule, dann drehte sie sich um und wartete, bis Tara ausgestiegen war. Er hörte den Mini wegfahren. Tara rannte zu Emma und umarmte sie. Hand in Hand gingen sie auf das Schultor zu.
«Mann …», hörte er Emma sagen, «so peinlich … megapeinlich.»
Nach ein paar Schritten drehte sie sich zu ihm um. Sie zwinkerte ihm zu und winkte ihn dann ungeduldig weg.
Ted ließ sein Fahrrad stehen und ging zu Fuß weiter. Er wusste nicht, wohin er ging. Der ganze Tag lag vor ihm. Er konnte tun, was er wollte. Die Zeitung zweimal von hinten bis vorne lesen. Überteuerten Kaffee trinken. Mitten am Tag ins Kino gehen. Sich ans Flussufer legen. Rauchen.
Was wollte er? Er wusste es nicht mehr. Nichts, dachte er. Ich will nichts. Ziellos ging er weiter, bis er die Straßen nicht mehr kannte. Irgendwann begann es zu regnen und er blieb stehen.
Er legte den Kopf in den Nacken und ließ das warme Wasser auf sein Gesicht tropfen. Das Leben ist schön, dachte er, und alles ist gut.
Poppy
«Schneider, mitkommen!» Frau Fahrny hatte die Klappe geöffnet und schaute besorgt zu Poppy hinein. «Schneider, sind Sie bereit?» Fahrny schloss die schwere Metalltür auf und betrat die Zelle.
Poppy saß auf dem gemachten Bett. Sie schaute fragend zu Fahrny auf. Diese nickte.
«Sieht schon viel besser aus», sagte sie. Poppy berührte ihr Gesicht, das voller blutiger Kratzer war. Man hatte ihr eine Salbe gegeben, mit der sie sich mehrmals täglich einreiben sollte. Poppys Gesicht brannte. Doch es fiel nicht von ihr ab. Dabei hatte sie doch den Kopf verloren. Endlich.
«Kommen Sie, ich bring Sie in die Therapie.»
Poppy stand langsam auf. Plötzlich erinnerte sie sich an die zwangsjackenartigen Fixleintücher, die sie in ihrer Verzweiflung über die Betten ihrer Söhne gespannt hatte, die beide vier Jahre lang nicht durchgeschlafen hatten. Mit einer Überschneidung von zwei Jahren ergab das insgesamt sechs schlaflose Jahre in Poppys Leben. Schlafentzug war eine international anerkannte Foltermethode. Es war ein Wunder, dass Poppy ihren Kopf nicht schon viel früher verloren hatte. Das Kind wurde mitsamt seinem Pyjama unter das Leintuch gesteckt, das drei Löcher hatte, für Kopf und Arme. Dann wurden die Ecken um die Matratze gespannt und festgesteckt, und das Kind so ans Bett gefesselt. Einmal, als sie im Ferienhaus von Peters Familie im Engadin auf Matratzen schliefen, war Lukas mitten in der Nacht heulend in ihr Schlafzimmer gekrochen, auf allen vieren, das Fixleintuch hinter sich gespannt wie ein Segel, die ganze Matratze hinter sich herschleifend.
Poppy fühlte sich, als sei ihr Körper an der plastikbezogenen Matratze in ihrer Zelle befestigt. Nur mit Mühe konnte sie ihren Hintern heben, sich losreißen, die zwei Schritte bis zur Tür gehen und Frau Fahrny in den Flur hinaus folgen. Normalerweise musste sie vor der Vollzugsbeamten gehen, damit diese sie im Auge behalten konnte. Diesmal gingen sie nebeneinander.
Fahrny berührte Poppy leicht am Arm. «Halten Sie durch, Schneider», murmelte sie. «Denken Sie an Ihre Söhne!»
Genau das tat Poppy ja. Waren ihre Söhne nicht besser dran ohne sie?
Poppys Leben war plötzlich hektisch geworden. Sie hatte angefangen zu arbeiten. Mehrere Stunden täglich klebte sie Grußkarten
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