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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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mehr? Keinen Meter weit gedacht, Poppy, wie soll er zu dir zurückkommen, wenn du in einer Zelle hockst? Und wie der Anwalt daherredet, ist es eh umsonst, keiner glaubt dir, du weißt nicht, wie es passiert ist, du hast dir keine glaubwürdige Geschichte zurechtgelegt, nicht einmal das kriegst du auf die Reihe!
    Du bist eine Fehlkonstruktion. Deine Mutter hast du ins Grab gebracht und deinen Vater vertrieben. Deine Ehe hast du zerstört, deine Kinder vernachlässigt, und deinen Geliebten gebrochen. Du bist dumm. Unfähig. Unbrauchbar. Unfähig. Unbrauchbar.
    Poppy begann zu schreien, um den Orkan in ihrem Kopf zu übertönen, sie hielt sich die Ohren zu, als kämen die Stimmen von außen, dann waren ihre Hände plötzlich an ihrem Haaransatz, sie riss an ihren Haaren, dann riss sie mit allen zehn Fingern die Haut von ihrer Stirn herunter, ihre Finger krallten sich in die Wangen, rissen, zerrten, bis ein Alarm losging und die Zellentür aufgeschlossen wurde.
    Frau Meier und ein männlicher Vollzugsbeamter, den Poppy nicht kannte, packten ihre Arme und rissen sie zurück. Sie drückten Poppys Arme auf ihren Rücken und hielten sie fest. Poppy weinte. Die Tränen brannten in ihrem Gesicht, plötzlich tat ihr alles weh. Sie weinte laut und mit offenem Mund wie ein Kind. Speichel tropfte über ihr Kinn und mischte sich mit ihren Tränen.
    Sie wurde hinausgeführt. Den Flur entlang. Sie lag auf einem Schragen und bekam eine Spritze. Ihr Gesicht brannte. Dann lag sie wieder in ihrer Zelle. Das Licht brannte. Immer wieder ging die Klappe auf.
    «Frau Schneider, alles in Ordnung?»
    Wenn sie nicht gleich antwortete, wurde die Tür aufgeschlossen, und jemand schaute nach, ob sie noch atmete. Einmal fuhren sanfte Finger über ihr schmerzendes Gesicht, tupften kühlende Salbe auf die Kratzer. Poppy lag auf dem Rücken und schaute zu, wie das Licht vor dem Fenster mehr und wieder weniger wurde.
    «Was ist passiert?», fragte der Psychiater, den Poppy den Dienstagsdoktor nannte, weil sie sich seinen Namen nicht merken konnte.
    Poppy beschrieb den Orkan in ihrem Kopf.
    Der Dienstagsdoktor nickte. «Sind Sie schon einmal abgeklärt worden?», fragte er.
    «Abgeklärt? Warum?»
    Der Arzt zeigte auf die Schulhefte, die auf seinem Schreibtisch lagen. Er hatte Poppy um einen Lebenslauf gebeten, zwei bis fünf Seiten, hatte er gesagt. Doch Poppy hatte ein Heft nach dem anderen vollgeschrieben.
    «Haben Sie die etwa alle gelesen?»
    «Ehrlich gesagt, ich hatte es nicht vor. So viel Zeit habe ich gar nicht. Aber Sie schreiben so spannend, Frau Schneider, ich konnte einfach nicht aufhören zu lesen! Sie haben ein echtes schriftstellerisches Talent!»
    «Ich?» Ein Talent – sie?
    «Das liest sich wie ein Roman», sagte der Dienstagsdoktor. Er legte eine flache Hand auf die Hefte, als wollte er sie für sich reservieren. «Aber auch wie eine Fallstudie für ADS.»
    «ADS», sagte Poppy langsam. «Ist das dasselbe wie ADHS?»
    «Heute nennt man es ADS + H, für Hyperaktivität. Aber ich glaube nicht, dass Sie ein H haben.»
    «Aber die anderen Buchstaben, die schon? Die hab ich?»
    «Es spricht einiges dafür. Aber eben, Sie müssten seriös abgeklärt werden.»
    «Lukas ist abgeklärt worden», sagte Poppy. «Mein Sohn. Der jüngere.»
    «Und? Was hat die Untersuchung ergeben?»
    «Ich weiß es nicht genau.» Julia hatte sie angerufen. Lukas hatte Probleme in der Schule, seine Klassenlehrerin hatte eine Abklärung vorgeschlagen. Poppy erinnerte sich an das Gefühl der Ausweglosigkeit. Wenn mit ihm etwas nicht stimmte, musste es wohl ihre Schuld sein. Von Peter konnte er es nicht haben. Julia hatte gesagt, sie würde nicht zulassen, dass man dem Luki eine Diagnose anhänge, noch weniger, dass man ihn mit Medikamenten abfülle, ohnehin glaube sie nicht an diese Scheindiagnosen, die nur der Pharmaindustrie dienten. Nein, sie würde erst einmal beantragen, dass er in eine andere Klasse versetzt würde. Poppy solle sich keine Sorgen machen. Julia würde sich um alles kümmern.
    Und Poppy hatte alles Julia überlassen. Julia wusste besser als sie, was das Beste war für ihren Sohn.
    «Morgen werden Sie also entlassen», sagte der Dienstagsdoktor.
    «Bitte nicht», sagte Poppy.
    Den Rest der Stunde verbrachten sie damit, Poppys Ängste einzufangen und eine nach der anderen aufzuspießen.
    Als Poppy wieder in ihrer Zelle war, schaute sie lange in den Spiegel, der über dem Waschbecken hing. Der Spiegel war nicht aus Glas, sondern aus Metall, und

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