Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
zusammen. Sie bekam Besuch von ihrem Anwalt. Besuch von Julia. Sie hielt sich zur gleichen Zeit wie die anderen Frauen im betonierten Hof auf. Das Einzige, was sie nicht nutzte, war der wöchentliche Anruf. Stattdessen schrieb sie ihren Söhnen Briefe, und sie schrieben ihr zurück. Halte durch, Mom.
Wir lieben dich.
Ihr Tagesablauf war durchgeplant. Um sechs Uhr ging die Klappe auf, Frühstück. Abwaschen, aufräumen, Bett machen, duschen und anziehen. Wenn sie um Viertel vor sieben mit allem fertig war, durfte sie die Zelle verlassen und zur Arbeit gehen. Wenn sie allerdings nicht bereit war, musste sie in der Zelle bleiben. Den ganzen Rest des Tages lang.
«Nur noch eine Minute, ich bin gleich so weit!» – das galt hier nicht. Die Beamten schauten Poppy oft mit einer Mischung aus Mitleid und Ungeduld an, die sie von ihrem Vater kannte. Mit diesem Blick, als fragten sie sich, ob sie sich wirklich nicht absichtlich so ungeschickt anstellte. Dabei gab Poppy sich doch alle Mühe. Und nach drei Tagen hatte sie gelernt, die Zeit, die ihr immer entglitten war, zu zähmen. Fast fünfzig Jahre lang hatte sie mit ihr gerungen. Jetzt gehorchte sie ihr plötzlich, sie ließ sich von ihr bändigen, einteilen, kontrollieren, wenigstens zwischen sechs Uhr und Viertel vor sieben.
Als sie das erste Mal pünktlich bereitstand, strahlte sie vor Stolz, und Frau Fahrny, die sie an diesem Morgen abholte, lächelte anerkennend. Sie führte Poppy in einen fensterlosen Raum, in dem drei große, quadratische Tische standen. An einem saßen schon zwei andere Gefangene, die Poppy vom Hofgang her kannte. Seit ein paar Tagen durfte sie zusammen mit den anderen in den Spazierhof. Am ersten Nachmittag hatte sie erstaunt festgestellt, dass ihre Stimme noch funktionierte. In den ersten Wochen hatte sie sie kaum gebraucht. Poppy hatte nicht gemerkt, wie sehr sie menschliche Gesellschaft vermisst hatte. Sie war ganz zufrieden gewesen, allein in ihrer Zelle, sie hatte mit ihren Gedanken gespielt wie eine Katze mit bunten Wollknäueln, hatte sie aufgerollt und hin und her gejagt und miteinander verknüpft. Jetzt stürzte sie sich mit einer Begeisterung auf die anderen Gefangenen, die diese erschreckte. Sie redete, bis sie heiser war. Großzügig verteilte sie ihre Zigaretten, Julia würde ihr nächste Woche wieder eine Stange mitbringen und sie besorgt fragen, ob sie nicht zu viel rauche. Nach einer Weile merkte Poppy, dass sie die Einzige war, die redete. Sie fing an, Fragen zu stellen, zuzuhören, die anderen gewöhnten sich an sie. Vielleicht mochten sie sie sogar.
«Yo, Poppy!» Samantha zeigte auf einen freien Stuhl neben sich. Sie war schwanger, was sie nicht davon abhielt, Poppys Zigaretten zu rauchen. Eine kleine, schmale, flachbrüstige Frau, die in dem blauen Trainingsanzug beinahe verschwand. Ärmel und Hosenbeine hatte sie aufgekrempelt, das lange Haar glatt geölt und streng aus dem Gesicht gekämmt. Sie sah aus wie ein Kind, das einen Ball unter dem Pullover versteckte. Sie hatte ihren Freund erstochen, den Vater ihres Kindes, der, so sagten die anderen, in Wirklichkeit ihr Zuhälter war. Die anderen, die am Tisch saßen, Mendi und Selima, waren wegen Drogendelikten verhaftet worden. Schmuggel und Verkauf. Beide hatten für Männer gearbeitet, die sie liebten, die ihnen alles Mögliche versprochen hatten und deren Besuch sie jetzt sehnsüchtig und meist vergeblich erwarteten.
Eigentlich, dachte Poppy, eigentlich sind wir alle der Liebe wegen hier.
Die Arbeit war nicht so einfach, wie sie aussah. Man musste die Karten exakt falzen, die vorgestanzten Motive sorgfältig auslösen und aufkleben. Das fiel Poppy nicht leicht. Sie konnte nicht gleichzeitig reden, zuhören und arbeiten. Immer wieder ließ sie die Karten sinken. Sie wurden pro Stück bezahlt, die anderen Frauen lachten Poppy leise aus.
«Du hast es wohl nicht nötig, la suiza », sagten sie. Sie sparten das Geld für ihre Entlassung, für ihre Verteidigung, sie warteten mit großer Sehnsucht auf den wöchentlichen Besuch. Sie versuchten sich mit den wenigen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, zurechtzumachen und waren dann zutiefst enttäuscht, wenn wieder nur die Mutter gekommen war, oder die Schwester. Es ist drinnen nicht anders als draußen, dachte Poppy. Wir tun alles, um geliebt zu werden, doch die Belohnung bleibt aus.
Poppy schaute den Frauen zu, wie sie vor Erwartung flirrend den Besucherraum betraten und mit den Blicken absuchten. Wenn sie nach einer
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