Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
über den Rücken. Nevada spürte, wie sich die Ameisenheere unter ihrer Haut zum Kampf formierten. Ohne ein Wort machte sie sich los und ging nach oben. Dann hatte sie ihre Mutter angerufen.
«Ist das alles?», fragte Sierra. Nevada schaute sich in dem leeren Zimmer um. Sie nickte. Sierra streckte die Hand aus. Nevada ergriff sie und zog sich an ihr hoch. Sierra war stark. Sie zog sie mit so viel Schwung hoch, dass Nevada gegen ihre Brust stolperte. Sierra hielt sie fest, und so standen sie einen Augenblick lang in einer ungeschickten Umarmung vereint. Nevada konnte sich nicht erinnern, ihre Schwester je umarmt zu haben. Sie wartete auf die Ameisen, doch die rührten sich nicht.
Sierra tätschelte ihre Schulter und ließ sie dann los. «Ich hab vorhin im Vorbeigehen ins Studio reingeschaut», sagte sie. «Schien niemand da zu sein.»
Nevada blickte auf die Uhr. «Die haben jetzt Teamsitzung», sagte sie, «unten in der Bar.»
«Ach, und da schließen sie nicht ab?»
«Nadine vergisst es manchmal», sagte Nevada.
«Mhm.» Sierra hob die Brauen. «Schönes Studio, muss ich schon sagen. Und tolle Sachen haben die im Shop!»
«Sierra!»
«Was?» Sierra breitete die Arme aus. «Ich tu doch nichts. Ich trag nur deine Sachen zum Wagen runter!»
«Sierra, wovon redest du? Meine Sachen? Die, die ich eingepackt habe?»
«Ja, genau die … und noch ein paar zusätzliche Tüten. Hab ich alles schön im Auto versorgt.»
«Sierra!»
«Was – Sierra? So, wie ich es sehe, hast du ein Recht auf einen Anteil. Du hast doch dieses verdammte Studio mitaufgebaut, hast alles hineingesteckt, was du hattest, du hast die Schüler hergeholt, deinetwegen sind die gekommen, doch nicht wegen Lakshmi! Übrigens, ich hab sie mal gegoogelt, weißt du, wie Lakshmi wirklich heißt?»
«Melanie Sutter!» Nevada begann zu kichern. «Und weißt du, was Lakshmi bedeutet? Göttin der Schönheit!»
«Göttin der Schönheit!», prustete Sierra. «Schon klar, dass die sich selber so nennen muss, sonst käme keiner auf die Idee!»
Lakshmi erzählte allen, ihr Guru habe ihr diesen Namen verliehen, aber Nevada wusste es besser. Plötzlich konnte sie nicht mehr aufhören zu lachen.
Nevada verließ die Fabrik am Fluss wie ein unartiges Kind nach einem Klingelstreich. Vor Lachen jaulend und japsend, an Sierras sehnigen Arm geklammert, berührten ihre Füße kaum den Boden. Sierra warf sie wie ein Gepäckstück auf den hohen Beifahrersitz, rannte dann vorne um das Auto herum und startete den Motor. Sie beschleunigte beim Wenden so, dass Nevada gegen die Tür fiel und die quietschenden Reifen eine perfekte schwarze Schleifspur im Hof der Fabrik hinterließen. Eine Unterschrift.
«Nevada was here» , sagte Nevada, und dann verstummten sie beide.
Auf der Autobahn war Stau. Sierra schaltete den CD-Spieler ein und gleich wieder aus, als eine sonore Stimme ertönte, die ihnen versicherte, sie seien ganz okay im Hier und Jetzt. Nevada bezweifelte das.
«Sorry», sagte Sierra. «Meine Meditations-CD.»
«Du meditierst beim Fahren?»
«Na ja – es ist mehr Selbstbestätigung. Du weißt schon: Du bist schön, du bist stark, du kannst das.»
Nevada nickte. Wusste Sierra das nicht von alleine? War sie nicht die große Schwester? Als Kind hatte Nevada Angst gehabt vor ihr. Sierra hatte sie vom Tag ihrer Geburt an spüren lassen, dass sie nicht ihr verlorener Zwilling war, sondern nur ein mittelmäßiger Ersatz. Nevada hatte sich oft vorgestellt, sie selber hätte ebenfalls einen verlorenen Zwilling. Irgendwo lebte ein kleines Mädchen, das genauso aussah wie sie. Genauso fühlte wie sie. Genauso einsam war, genauso müde. Denn dieses Mädchen und sie waren Zwillinge. Ihre Mutter war nach der Geburt schwer krank geworden und hatte deshalb nicht gemerkt, dass eine böse Frau (Martha) in ihr Spitalzimmer schlich und eines der Zwillingsmädchen stahl, weil sie meinte, es sei ihres. Nevada hatte schon als Kind gewusst, dass sie nicht die wirkliche Nevada war, und hatte sich in ihren Tagträumen immer einen anderen Namen gegeben: Miriam. Ursula. Brigitte. Sie hätte so gerne den Namen einer Heiligen getragen. Lieber als den einer Bergkette.
Nun, die Mutter, die richtige Mutter, erwachte aus ihrer Ohnmacht und hatte nur noch ein Kind. Obwohl sie sehr traurig war, kümmerte sie sich aufopfernd um das ihr gebliebene Mädchen. Jeden Abend vor dem Einschlafen erzählte sie ihr von ihrer verlorenen Schwester. Sie vergaßen sie nie. Sie suchten und suchten und gaben
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