Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
aus Nevadas Bauch herausnagen, wenn sie es nicht fütterte. Verzweifelt griff sie nach dem Teller, den ihre Mutter schon in den Abfalleimer kippen wollte.
«Kann ich heute nach der Schule noch zu Maja?», fragte Sierra, geschickt den Moment nutzend, in dem ihre Mutter abgelenkt war. «Wir lernen für die Prüfung am Freitag.»
«Was denn für eine Prüfung?» Die Mutter lockerte ihren Griff, Nevada zog den Teller zu sich und stopfte im Stehen den Hüttenkäse in sich hinein, sie benutzte das Knäckebrot als Schaufel und verschlang blitzschnell den weißen, lauwarmen, säuerlich schmeckenden Haufen, bevor man ihr den Teller wieder wegnehmen konnte.
«Wahrscheinlich schlaf ich dann auch gleich da», fuhr Sierra fort. «Es ist einfacher, sie wohnt so nahe bei der Schule.»
Sierra hatte eine Zwillingsschwester gehabt, die kurz vor der Geburt im Mutterleib gestorben war. Acht Jahre lang hatten ihre Eltern versucht, die Sierra Nevada wieder komplett zu machen. Die Mutter hatte unzählige Fehlgeburten erlitten und schließlich aufgegeben. Dann, natürlich, war sie schwanger geworden. Als sie es nicht mehr erwartet hatte und vermutlich auch gar nicht mehr wollte.
«Jetzt lass verdammt noch mal das Kind anständig frühstücken!», rief plötzlich eine heisere Stimme aus dem alten türkisfarbenen Cadillac Roadster Cabriolet von 1953, der mitten im ansonsten leeren Wohnzimmer stand. Auf der breiten lederbezogenen Rückbank schlief oft der Vater. Er trug einen zerknitterten türkisfarbenen Anzug, ein rosa T-Shirt, keine Schuhe. Seine Locken und sein Bart waren fast weiß. Sein Gesicht war gebräunt, in der Decke des Badezimmers waren Bräunungsstrahler installiert, die sich automatisch einschalteten, wenn man die Türe schloss. Er kletterte vom Rücksitz des Cadillacs und schlurfte in die Küche. Er packte Nevada um die Taille und hob sie hoch.
«Na, mein Knuddel?» Er küsste sie, sie wandte sich ab. Sein Bart kratzte, er roch nach Schweiß und kaltem Rauch. «Dann wollen wir mal sehen, ob wir nicht ein ordentliches Katerfrühstück hinkriegen, das wäre doch gelacht.»
Er öffnete den Kühlschrank. «Willst du uns etwa Hungers sterben lassen?», fragte er seine Frau, die sich angewidert wegdrehte. «Oder hast du letzte Nacht wieder alles weggeputzt, hm?»
Seine Stimme klang jetzt bösartig. Nevada presste die Lippen zusammen. Es war ihre Schuld, sie hatte gewusst, dass der Tiefkühler gestern noch voll gewesen war. Hätte sie bloß nichts gesagt.
«Ich hab noch nicht geschlafen. Ich hab dich gehört.»
«Du? Du warst ja nicht mal in der Lage, dein Bett zu finden!»
«Gefunden hab ich es schon – aber was drin lag, gefiel mir nicht!»
Beni nahm sechs Eier aus dem Kühlschrank, schlug sie in die Pfanne, rührte mit deinem Holzlöffel um, gab Milch dazu und scharfen Pfeffer. «Ohne Fett wird das aber nichts», sagte er.
«Papa, darf ich heute bei Maja übernachten?», fragte Sierra.
«Natürlich, mein Schatz.»
«Natürlich, mein Schatz», äffte Martha ihn nach. «Du weißt doch nicht mal, wer Maja ist.»
«Klar weiß ich das. Die Tochter von diesem Staranwalt. Kann nicht schaden, solche Leute zu kennen.» Beni stellte die Bratpfanne direkt auf die Frühstückstheke, setzte sich auf den freien Hocker und zog Nevada auf seinen Schoß. Er gab ihr eine Gabel in die Hand. «Iss, Kleine.» Zusammen schaufelten sie das trockene Rührei in sich hinein. Nevada aß schnell. Ihr Vater roch süßlich und abgestanden und faul.
Martha schaute ihnen einen Moment lang zu, dann wandte sie sich ab. «Ihr widert mich an», sagte sie. «Alle beide!»
Wenig später drang aus dem hinteren Teil der Wohnung die deutsche Synchronstimme von Jane Fonda, die sie zum Wippen anhielt: «Und eins und zwei und drei und vier!»
Nevada saß auf dem Schoß ihres Vaters. Er hielt sie fest und atmete in ihren Nacken. Sie saß wie auf einem untergehenden Floß. Sein Schoß regte sich. Sie fühlte sich unwohl. Sie sagte nichts. Es gab nichts zu sagen. «Unwohl» war nur ein Gefühl. Gefühle konnte man in den Griff bekommen, das sagte ihre Mutter. Wenn man sich nur genug Mühe gab. Nevada gab sich Mühe, aber nicht genug. Sie war nicht gut genug. Sie war nie gut genug. Nicht für ihren Vater, nicht für ihre Mutter.
Sofort schüttelte sie diesen Gedanken wieder ab. Und konzentrierte sich auf die Stunde. Sie würde ihre Schüler so fordern, dass sie gar nicht auf die Idee kämen, sich zu beklagen. Oder sich zu wundern. Sie hatte die Heizung
Weitere Kostenlose Bücher