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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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Sierra und ihrer Mutter herrschte eine Art stummes Einverständnis, von dem Nevada ausgeschlossen war.
    «Kann ich ein Frischbackbrötchen haben?», fragte sie jetzt, und ihre Mutter verdrehte die Augen.
    «Und, was sonst noch?»
    Nevada antwortete nicht. Schaute hoffnungsvoll. «Wer soll diesen Augen widerstehen können?», hatte Frau Schneebeli zu ihr gesagt, ihre Lehrerin in der zweiten Klasse, und sie in die Spielecke entlassen, obwohl sie ihre Rechenaufgaben noch nicht fertig gelöst hatte. Nevada mochte Frau Schneebeli. Sie hatte stachlige Haare wie ein Igel und immer knallrot geschminkte Lippen. Keine andere Lehrerin im ganzen Schulhaus hatte so rote Lippen, so schwarze Haare, eine so weiße Haut.
    «Frau Schneebeli, sind Sie das Schneewittchen?», hatte Nevada sie einmal gefragt, als sie ihr zum Abschied am Ende des Schultages die Hand gegeben hatte. Frau Schneebeli hatte nur gelacht, sie hatte weder ja noch nein gesagt. Alles war möglich.
    «Weißt du überhaupt, was in so einem Frischbackbrötchen drin ist? Wie viele Kalorien das hat? Und dann wohl noch Butter drauf, wie?»
    Nutella, dachte Nevada, aber sie sprach es nicht aus. Ihre Mutter war auf Diät. Seit Nevada denken konnte. Ihren Töchtern wollte sie diese Tortur ersparen, deshalb wurden sie von Anfang an kurz gehalten, gar nicht erst an dickmachende Lebensmittel gewöhnt. «Eines Tages werdet ihr es mir schon noch danken!» Im Kühlschrank standen neben Weißwein, Champagner und französischem Mineralwasser in bauchigen grünen Glasflaschen nur saure Gurken, Silberzwiebeln, Magermilch, Yoghurt, Hüttenkäse.
    Die verbotenen Sachen waren im Tiefkühlfach versteckt, Eiscremekübelchen, Frischbackbrötchen, Minipizzas. Nevada hatte sie zufällig entdeckt. Sie war nachts aufgewacht und hatte Geräusche in der Küche gehört. Leise war sie aus ihrem Zimmer geschlichen. Aus der Küche kam ein blauer Lichtschein. Nevada hatte an Engel gedacht, aber es war nur das kühle Licht, das aus der geöffneten Kühlschranktür fiel. Davor kauerte Martha auf dem wasserspiegelglatten Küchenboden, und stopfte mit beiden Händen Essen in sich hinein, Essen, das Nevada noch nie gesehen hatte. Leise war sie zurück ins Bett gekrochen. Bei nächster Gelegenheit hatte sie den Kühlschrank untersucht und das geheime Fach gefunden, in dem steinhart gefroren die verbotenen Lebensmittel lauerten.
    «Biiitttteeee», sagte Nevada und machte große Augen, Augen, denen man nicht widerstehen konnte.
    Ihre Mutter konnte. «Wir haben keine Frischbackbrötchen», schnappte sie.
    «Haben wir doch!» Nevada rutschte von ihrem Hocker und zerrte ihn vor den Kühlschrank. Sie kniete sich darauf, um das Tiefkühlfach zu erreichen, zog mit Mühe die Tür auf – es war leer. Gestern war es noch voll gewesen. Nevada hatte nach der Schule ein Kübelchen Schokoladeeis herausgeholt und heimlich in ihrem Zimmer geleert. So schnell hatte sie es ausgelöffelt, dass sie von der Kälte Kopfschmerzen bekommen und die Schokolade einen pelzigen Geschmack in ihrem Mund hinterlassen hatte. Sie hatte sich hinter ihrem Bett auf den Boden gekauert, so dass ihre Mutter sie nicht sehen konnte, sollte sie hereinkommen. Nevada würde die Türe hören und das Kübelchen und den Löffel blitzschnell unter ihrem Bett verstecken. Ihre Mutter war nicht hereingekommen. Nevada hatte das Kübelchen restlos ausgeleckt, dann hatte sie es klein zusammengefaltet. Sie hatte Seiten aus einem alten Zeichenblock gerissen – kindische Bilder von Häusern und Menschen, die sich an der Hand hielten, und gelbe Sonnen, die in der Ecke des Blattes hingen wie Käseviertel. Ihre Mutter hasste diese Ausmalblöcke. Ihre Töchter sollten kreativ sein. Das war beinahe so wichtig, wie dünn zu sein. Nevada zerknüllte die Blätter mit dem leeren Eiskübel darin und stopfte alles in ihren Papierkorb. Am nächsten Tag würde die Putzfrau kommen und alle Papierkörbe leeren. Niemand würde etwas merken. Niemand hätte etwas gemerkt, wenn Nevada sich nicht selbst verraten hätte: «Aber gestern waren hier noch …» Ihr Satz blieb in der Luft hängen. Sie merkte sofort, dass sie etwas Falsches gesagt, dass sie an ein Geheimnis gerührt hatte.
    «Wenn dir das Frühstück nicht schmeckt, das ich extra für dich hergerichtet habe, musst du es ja nicht essen», sagte die Mutter und nahm Nevadas Teller weg. Nevada begann zu weinen. In ihrem Bauch war ein schwarzes Loch, und in dem Loch saß ein Tier, das die Zähne fletschte. Das Tier würde sich

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