Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
verbrachte er im Zimmer, manchmal hinter geschlossenen Läden. Er hatte aufgehört zu duschen und sich zu rasieren.
Und jetzt das. War das nicht besser? Was war sie für eine Frau, wenn sie sich nicht freute, dass er etwas gefunden hatte, dass ihn vom Sofa riss? Etwas, das ihn glücklich machte?
Yoga, die Wunderdroge. Vielleicht war sie ja nur beleidigt, weil sie nach einem guten halben Jahr immer noch auf die Erlösung wartete?
Schnell waren die Matten in Gions nächster Nähe belegt. Junge Frauen warfen sich direkt neben ihm in gefährlich aussehende Verrenkungen, warfen ihre langen Beine sozusagen um seinen Hals. Marie beschloss, sich gerade hinzusetzen und die Augen zu schließen. Sie faltete ihre Beine in die Lotusposition, die einzige Yogastellung, die ihr leichtfiel. Den Lotussitz hatte sie schon als Kind beherrscht, ohne zu wissen, wie er hieß. Sie bemühte sich, ruhig zu atmen. Immer wieder blinzelte sie. Yogaprinzessinnen belagerten ihren Mann. Eine hatte sich auf den Rücken gelegt, ihre Beine angehoben und auf beiden Seiten neben ihrem Kopf platziert, so dass sie ihren Unterleib vollkommen offen präsentierte, kaum verhüllt von einem hellgrauen Leotard. Besser als jede Pornoseite, dachte Marie gehässig, kein Wunder, dass Gion begeistert ist. Eine andere begann, flüsternd auf ihn einzureden. Marie vergaß zu atmen, so sehr konzentrierte sie sich. Die Frau tat so, als wisse sie nicht, wer Gion sei. Marie wusste aus eigener Erfahrung, dass nichts so gut funktionierte wie diese Masche. Kein Schauspieler kann es auf sich beruhen lassen, dass man ihn nicht kennt. Da kann er sich noch so glaubwürdig über die Tatsache beklagen, dass er keinen Schritt tun kann, ohne beobachtet zu werden. Wehe, er wird es nicht.
«… für meine Arbeit», sagte Gion jetzt halblaut. «Ich recherchiere für eine Rolle …»
«Dann bleibt Doktor Santana also nicht im Vorstadtspital?», verriet sich eine andere Yogaschülerin. Ihre Stimme klang seltsam gedämpft zwischen ihren Schenkeln hervor.
«Dazu kann ich nichts sagen.»
«Doktor Santana? Vorstadtspital? Ich verstehe nicht …» Die erste Bewunderin blieb bei ihrer Masche. Bisschen dick aufgetragen, dachte Marie gehässig hinter geschlossenen Lidern. Endlich öffnete Nevada ihre Augen und begann die Stunde. Marie beobachtete sie genau. Die leichte Spannung in den Schultern, die Schonhaltung, das wiederholte Reiben der Handgelenke, vorsichtig nur. Du hast immer noch Schmerzen, dachte sie. Die Schmerzen sind nicht weg. Im Kopf ging sie die Karteikarten durch, mit denen sie während des Studiums gebüffelt hatte. Maries Kopf war wie ein Computer organisiert, sie hatte ein fotografisches Gedächtnis, sie konnte Informationen abrufen, die sie vor Jahren einmal gespeichert hatte, sie musste nur wissen, wo sie sie finden würde. Sie stellte sich ein großes Schubladenmöbel vor, die Schubladen waren beschriftet nach Studienjahr und Fachgebiet, aus jeder Schublade konnte sie eine endlose Hängeregistratur ziehen, bunte, säuberlich beschriftete Mäppchen. Sie blätterte.
Weichteilrheumatismus, dachte sie. Fibromyalgie. Scheißdiagnose. Nulldiagnose.
«Hände zum Gebet.» Nevada begann ihre Stunde mit einer Erklärung zu ihrem Yoga-Unfall, der Marie nicht einleuchtete. Diese Schmerzen, diese unerklärliche Schwäche konnten nicht Folge von Überanstrengung sein. Machte sie ihnen etwas vor? Plötzlich war Marie sauer auf Nevada. Sie war doch ihre Yogalehrerin! Sie sollte ihr die Antworten bringen, nicht umgekehrt! Marie wusste, dass es ihre eigene Entscheidung gewesen war, nicht nach Hause zu fahren, sondern Nevada in die Notaufnahme zu bringen und sie so zur Patientin zu machen. Trotzdem nahm sie es Nevada übel. Sie fühlte sich verraten. Sie hatte etwas verloren.
«Stira Sukham Asanam» , sagte Nevada gerade. «Anstrengung und Leichtigkeit zeichnen die richtig ausgeführte Yogastellung gleichermaßen aus», sagte sie. «Der Gradmesser dafür ist euer Atem. Versucht, genau so lange ein- wie auszuatmen. Wenn das Einatmen zum Keuchen wird, wenn ihr nach Luft schnappt, dann strengt ihr euch zu sehr an. Dann müsst ihr euch zurücknehmen. Aus der Stellung gehen. Weniger machen. Atemloses Yoga ist kein Yoga, das ist Kunstturnen!»
Trotzdem schien Marie die Stunde sehr viel anstrengender als sonst. Bald schon lag sie zusammengerollt in der Stellung des Kindes auf ihrer Matte. Sie hörte Gion neben sich schnaufen. Beinahe hätte sie den Kopf gehoben und gerufen: «Hast du
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