Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
fragte er schließlich.
«Wir sind in einer Viertelstunde bei dir. Tut mir ja wirklich leid, dass ich dein unbeschwertes Junggesellenleben unterbrechen muss, aber – du hast nun mal eine Tochter. Tough luck! »
du ḥ khadaurmanasy āṅ gamejayatva ś v ā sa-
pra ś v ā s ā vik ṣ epasahabhuva ḥ
Geistige Zerstreutheit führt zu einer Verengung
des Herzens, einer Verdunkelung des Geistes,
zu körperlichen Symptomen wie fahrigen Bewegungen
und unruhigem Atem.
Patanjali Yoga Sutra 1 . 31
Nevada
Sie wollte morgens gar nicht mehr aufstehen. Als sie es tat, stolperte sie. Ihre Knöchel knickten ein. Die Treppenstufen wuchsen plötzlich in unüberwindbare Höhen. Immer öfter musste sie sich auf dem ersten Absatz hinsetzen. Sie legte den Kopf an die Wand und weinte vor Erschöpfung.
So fand Lakshmi sie sitzen. «Hey! Was ist mit dir?»
Keine Schwäche zeigen, dachte Nevada. Doch es war zu spät. «Ich bin so müde», schluchzte sie.
Lakshmi bückte sich, packte sie unter den Armen und zog sie hoch. Zusammen gingen sie die Treppen hoch. An Lakshmis Arm schienen die Stufen wieder normale Größe anzunehmen. «Ich hab eine Stunde Zeit», sagte Lakshmi und schloss ihre Wohnungstür auf. «Komm rein. Jetzt sagst du mir mal, was eigentlich los ist!»
Als Nevada auf Lakshmis weichen Bodenkissen lag und Rauchtee trank, tat ihr nichts mehr weh. Sie gab sich einen Moment lang dem Gefühl hin, es könnte alles wieder gut werden.
Nevada hatte Lakshmi, die damals noch Melanie hieß, in Indien kennengelernt, als sie beide ein Teacher Training für ausländische Schüler bei einem berühmten indischen Lehrer besuchten. Nevada hatte lange für die Reise zu ihrem Guru gespart, sie hatte sich vorbereitet, indem sie jeden Tag noch länger übte, noch härter. Sie hätte besser einen Reiseführer gelesen. Indien hatte sie überwältigt und überfordert.
Sie hatte gehofft, nach Hause zu kommen, zur Quelle des Yoga, wo alle Antworten aus dem Boden sprudelten. Sie würde sie mit beiden Händen schöpfen und an ihre Lippen führen, aufsaugen würde sie diese Weisheit. Und alles würde gut.
Das Ausbildungsprogramm für Ausländer hatte sehr viel Geld gekostet. Für Unterkunft und Reise blieb wenig übrig. Nevada war in überfüllten Zügen und klapprigen Bussen eineinhalb Tage lang unterwegs gewesen. Als sie endlich in der Shala , der Schule, angekommen war, zu spät, schmutzig, verwirrt, hungrig und um die Hälfte ihres Gepäcks erleichtert, hatte der Guru sie mit dem Worten «Bad lady» begrüßt.
Um ihre Verspätung wiedergutzumachen, hatte sie erst einmal das Ashram putzen müssen.
In dem Gästehaus, in dem sie wohnte, wohnten auch Wanzen und Flöhe. Der halbwüchsige Sohn der Gastfamilie schlich nachts durch die Zimmer und versuchte die ausländischen Yoga Ladies anzufassen, durch ihre dünnen Schlafsäcke hindurch. Nevada konnte ihn riechen, Schweiß und Gewürze und Haaröl, er legte eine Hand auf ihr Gesicht, sie tat so, als schliefe sie.
Was stimmt mit mir nicht, dachte Nevada, dass mich nur die anfassen wollen, die das nicht sollten? Mein Vater, der Sohn meines Gastgebers, mein Guru? Oder dachte ihr Guru etwa gar nichts Falsches, nichts Unyogisches, wenn er, um ihr aus Urdhva Dhanurasana , der Radstellung, in den Handstand zu helfen, kräftig in den Schritt fasste? Vielleicht war das die einzig richtige, traditionell überlieferte Methode, um die Schwerkraft auszutricksen und den Körper in eine Richtung zu drängen, in die er nicht wollte? Vielleicht war sie es, Nevada, die das Falsche dachte. Vielleicht war sie es, die verdorben war. Das Verdorbene anzog. Das Schmutzige. Doch sie war nicht die Einzige, die so berührt wurde.
«Der perverse alte Sack!», rief eine dünne Blondine im Teehaus. Es wurde still. «Ist doch wahr», verteidigte sie sich. «Habt ihr etwa je gesehen, dass er einen Mann so anfasst? Wenn das die traditionelle Methode ist, dann müsste sie ja erst recht bei Männern angewandt werden, schließlich durften ursprünglich nur Männer Yoga üben!»
Das war Lakshmi. Am nächsten Morgen legte sie einen Kranz aus orangefarbenen Ringelblumenblüten zu den Füßen des Gurus nieder. Sie verneigte sich vor ihm. Legte die Handflächen zusammen und hob sie vor ihre Stirn.
«Mein Lehrer, darf ich Sie etwas fragen?»
Der Guru nickte gnädig.
«Warum fassen Sie nur den Frauen zwischen die Beine, und den Männern nicht?»
«Bad lady, bad!»
Einer der Lehrer fasste Lakshmi am Arm und
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