Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
führte sie aus der Schule. Nevada schaute ihr nach und dachte: Hätte ich bloß den Mut gehabt.
Zwei Tage später stand Lakshmi vor dem Gästehaus, in dem Nevada wohnte. Sie sprach sie auf Schweizerdeutsch an.
«Ich hab eine neue Schule gefunden», sagte sie. «Auch hier in der Stadt. Sie ist sauber, man lernt etwas, der Lehrer ist anständig, und billiger ist es auch noch. Kommst du?»
»Aber ich hab doch schon den ganzen Lehrgang bezahlt. Ich glaube nicht, dass der Guru mir das Geld zurückgibt!»
«Natürlich nicht. Der alte Sack.»
Nevada mochte es nicht, wenn Lakshmi das sagte. Trotz allem war der alte Mann der Lehrer ihrer Lehrerin, Shri Jenny. Seine Methode, Yoga zu unterrichten, war auf der ganzen Welt verbreitet, und Shri Jenny hatte sie genau hier, auf diesem rauhen Betonboden, in dieser stickigen Halle gelernt. Allerdings hatte sie Nevada nie in den Schritt gefasst.
Lakshmi hatte sich auf Nevadas Bett gesetzt, ein hölzerner Schragen mit einer dünnen Matte, die mit Plastik überzogen war. Darauf lag Nevadas Daunenschlafsack, der viel zu warm war für das Klima. Doch Nevada hatte sich nicht vorbereitet, keine Bücher über Indien gelesen, über die Jahreszeiten, Temperaturen, Niederschlagsmenge, über die Währung und den öffentlichen Verkehr. Sie hatte nur geübt und geübt und geübt. Das Buch mit den Bildern des noch jungen Gurus vor sich, hatte sie sich verrenkt, verknotet, verschraubt und auf den Kopf gestellt. Es konnte doch nicht sein, dass dieser Mann, nach dem sie ihr Leben ausgerichtet hatte, nicht der Richtige war!
Es wäre nicht das erste Mal, dachte Nevada.
«Sag mal, hast du hier etwa Flöhe?» Lakshmi sprang auf und kratzte sich durch den dünnen Stoff ihrer Pluderhose am Po. «Das geht ja gar nicht! Du kommst jetzt mit mir!» Sie zog die dünnen bunten Baumwolltücher, die Nevada gekauft hatte, um darunter zu schlafen, von der Matratze, rollte den Schlafsack zusammen, das Moskitonetz, packte Nevadas Rucksack und trug alles aus dem Gästehaus. Der Sohn des Besitzers schaute ihnen mit traurigen Augen nach.
«Ich habe die ganze Woche schon im voraus bezahlt», sagte Nevada.
Lakshmi ging nicht darauf ein. Als sie auf der staubigen Straße standen, pfiff sie ein Taxi herbei. «Hotel Taj Mahal», herrschte sie den Fahrer an. «Und keine Umwege, ich kenne den Weg!»
Sie feilschte den Preis herunter, sie trug Nevadas schmuddeligen Rucksack durch die klimatisierte Halle, die dünnen Sohlen ihrer Sandalen klatschten auf dem kühlen Marmorboden. An der Rezeption verlangte sie ihren Schlüssel, dann hievte sie den Rucksack über die Theke: «Alles auskochen, bitte!»
Drei Monate lang wohnte Nevada in Lakshmis Suite. Zusammen kämpften sie sich durch die Yogalehrerausbildung, die sie oft bis an den Rand der Erschöpfung brachte. Ihr neuer Lehrer unterrichtete anders, langsamer, methodischer, er verlangte von ihnen, dass sie das Yoga Sutra von Patanjali auswendig lernten, ihm nachsangen, einen Vers nach dem anderen. Abends saßen sie manchmal erschöpft auf dem Fußboden in ihrem Zimmer, tranken Whisky aus den kleinen Minibarflaschen und diskutierten über die Bedeutung der einzelnen Verse.
« Samtosha, Genügsamkeit», kicherte Lakshmi und stopfte sich eine Handvoll Erdnüsse in den Mund. Normalerweise aßen sie in der Schule oder in einem Teehaus am Ende der Straße, sie aßen einfach, vegetarisch, sie wurden dünn und sehnig, ihre Augen wurden größer, ihre Haare dünner. Aber manchmal musste es die Minibar sein und Roomservice. Club-Sandwiches und Pommes frites. Oder gleich ein Hamburger. Nevada war es nicht gewohnt, Geld zu haben. Ihr Budget für den Indienaufenthalt war längst aufgebraucht, überzogen sogar. Sie hatte niemanden, an den sie sich wenden konnte, wenn ihr das Geld ausging, wenn ihre Kreditkarte gesperrt wurde. Doch wenn sie ihre Besorgnis äußerte, winkte Lakshmi nur ab. «Geld ist Mittel zum Zweck», sagte sie. «Wie Yoga auch.»
«Also, was war das da unten auf der Treppe?», unterbrach Laskhmi jetzt ihre Gedanken.
Nevada schüttelte den Kopf. Sie hob die Teeschale an die Lippen – na also, das ging doch. So schwer war die Schale doch gar nicht! – und stellte sie dann vorsichtig auf den Boden.
«Ich war plötzlich so müde», sagte sie. «Ich konnte einfach nicht mehr.»
Lakshmi nickte. «Wie lange geht das schon so? Seit deinem Sturz?»
«Länger. Aber genau weiß ich es nicht. Ich hab diese komischen Schmerzen in den Armen, und meine Füße … meine
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