Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
eines Tages einfach geweigert hatte, weiter zur Schule zu gehen. Beim klärenden Gespräch mit den Eltern (zu dem, wie üblich, nur die Mutter erschienen war), der Lehrerin und der Schulleiterin war es aus dem Jungen herausgebrochen: «Immer überall nur Frauen!», hatte er geheult. «Zu Hause, in der Spielgruppe, im Kindergarten, in der Unterstufe, im Turnen, im Singen, und jetzt in der Mittelstufe wieder: eine Frau! Ich kann nicht mehr», hatte er geschluchzt, und dann war er in Teds Klasse versetzt worden.
«Wir brauchen dringend Männer», hatte die Schulleiterin beim Bewerbungsgespräch gesagt. Er hätte überall eine Stelle haben können, er hatte diese gewählt: in einer ruhigen Kleinstadt mit geringem Ausländeranteil. Ted brauchte bei der Arbeit keine zusätzlichen Herausforderungen, sein Privatleben verlangte ihm schon genug ab.
Als Primarlehrer hatte er geregelte Arbeitszeiten, viel Ferien, gute Sozialleistungen. Er hatte eine pädagogische Ausbildung, ein eidgenössisches Diplom, das ihm bescheinigte, mit Kindern umgehen zu können.
Warum hatte er geglaubt, das sei etwas wert? Das Doppel-X-Chromosom war das einzige Argument, das zählte, wenn es darum ging, dem fähigeren Elternteil das Sorgerecht zuzusprechen. Tina hatte bald nach der Geburt wieder angefangen zu arbeiten, erst sechzig, dann hundert Prozent, sie musste bei Geschäftsessen repräsentieren, Geschäftsreisen unternehmen. Ted hatte sich mehr um Emma gekümmert als sie, er konnte das beweisen, er hatte alle Agenden behalten, in denen mit roten und blauen Stiften säuberlich notiert war, wer wann wie viele Stunden mit Emma verbracht hatte.
«Keine Chance», hatte die Anwältin gesagt, die er kurz nach der Trennung konsultiert hatte. «Wenn es ein Sohn wäre, vielleicht, aber ein Mädchen – keine Chance. Selbst wenn die Mutter das Kind nicht wollte. Dann würde das Jugendamt vielleicht einen Vormund bestimmen, eine Pflegefamilie vorziehen, man gibt einem Mann kein kleines Mädchen, das tut man einfach nicht.»
Sie waren ja nicht mal verheiratet gewesen! Die Anwältin schüttelte den Kopf. «Nicht, dass das viel ändern würde. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin Feministin erster Stunde.» Dafür schien sie zu jung, aber Ted hütete sich, das auszusprechen. «Ich bin auf die Straße gegangen, mein Bauch gehört mir, wenn Frau will, steht alles still – aber seit ich im Familienrecht praktiziere, grob gesagt, seit ich von Scheidungen lebe …» Sie schaute zum Fenster hinaus. Ein Baum mit beinahe unnatürlich grellgrün leuchtenden Blättern füllte das ganze Fenster aus. Ted erinnerte sich, wie sein Blick dem ihren folgte, sich in den sanft wogenden grünen Flecken verfing, wie er vergaß, warum er hier war. Bis ihn die Stimme der Anwältin aus seinen Träumereien riss.
«Seit ich hauptsächlich Scheidungen mache», wiederholte sie, «weiß ich: Frauen mögen in den meisten Bereichen des täglichen wirtschaftlichen, politischen und selbst privaten Lebens immer noch benachteiligt sein. Wenn es aber um Scheidungen geht, um Sorgerecht und Alimente, dann sind die Männer die armen Schweine. Ich könnte Ihnen etwas vormachen, ich könnte Ihnen viele Stunden berechnen, aber ich sag Ihnen lieber ehrlich: Sparen Sie das Geld. Versuchen Sie, sich mit der Mutter möglichst gutzustellen. Kommen Sie ihr entgegen, wo Sie können. Das Beste, worauf Sie hoffen können, ist, dass sie freiwillig eine Vereinbarung unterschreibt, die Ihnen gewisse Rechte einräumt.»
«Vielleicht fang ich auch mit Yoga an», sagte Tobias in sein Bier. «Beim Biken finde ich jedenfalls keine Frau.»
«Tobias, du hast doch schon eine Frau!»
Tobias zuckte die Schultern. «Eine ist keine!»
Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Tobias liebte seine Frau, die Vorstellung, sie zu betrügen, wie er das in früheren Beziehungen manchmal getan hatte, erfüllte ihn mit namenloser Müdigkeit. Wenn er zweifelte, nur einen Augenblick lang zweifelte: Bin ich nicht zu jung, um mich schon festzulegen, werde ich wirklich nie wieder mit einer anderen Frau schlafen, und wenn wir schon dabei sind, werde ich überhaupt je wieder mit einer Frau schlafen, denn schließlich ist es schon eine ganze Weile her, dass Eveline … bestimmt drei Monate …
Wann immer solche Zweifel auftauchten, rief er Ted an. Ein Abend in seiner Gesellschaft, und Tobias ging wieder gern nach Hause. War, je nachdem, wie viel er getrunken hatte, auf den Knien und bis zu den Tränen dankbar für
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