Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
verspürte, das Falsche zu bestellen, ein blutiges Steak, ein Glas Wein, einen Espresso. In ihrem Leben war beinahe alles, was man essen, trinken oder rauchen kannte, falsch. Verboten. Seit sie denken konnte, war das so. Seit ihre Mutter ein Zahlenschloss am Kühlschrank angebracht hatte.
«Danke, das ist aufmerksam von dir», antwortete sie nun. «Aber du musst nicht für mich sorgen, das ist nicht deine Aufgabe.» Seit wann ging ihr dieser Jargon so schwer über die Lippen?
«Ich weiß genau, was du brauchst», mischte sich Nadine ein. «Kennst du Kombucha? Eine Art Tee aus vergorenen Pilzen, wirkt entzündungshemmend und …»
«Nach ayurvedischen Gesichtspunkten sind aber Pilze, speziell vergorene …»
«Ayurvedisch gesehen muss es das Pitta sein, ihr Pitta nimmt überhand!»
«Nein, diese Trägheit, das ist eindeutig Kapha .»
«Trägheit?» Nevada sah sich um. Sie entdeckte eine Karaffe mit Wasser und schenkte sich ein Glas ein. «Es ist gut», wiederholte sie. «Ihr müsst euch nicht um mich kümmern. Ich hol mir später einen Tee.»
«Noch besser wäre heißes Wasser, abgekocht und auf sechzig Grad abgekühlt.» Oona stand auf und ging zur Theke. Sie ließ sich eine Tasse mit heißem Wasser geben und stellte sie auf den Tisch.
«Danke», sagte Nevada. Sie wusste, wann sie aufgeben musste. Das hatte sie von ihrer Mutter gelernt: Danke zu sagen und zu lächeln. Das war meist der einfachste Ausweg.
«Also, jetzt, wo wir alle da sind …» Lakshmi schaute demonstrativ auf ihre Armbanduhr. «Ein paar Neuerungen. Sebastian wird dieses Wochenende einen Workshop für Männer leiten. Bei genügend Anmeldungen wird eine regelmäßige Gruppe daraus werden.»
«Der Workshop ist bereits ausgebucht», sagte Nadine. Sie hatte eine ausgedruckte Excel-Tabelle vor sich liegen. «Wir haben sogar eine Warteliste.»
«Ich gehe davon aus, dass eine regelmäßige Gruppe von mindestens zwanzig Männern zustande kommt», sagte Sebastian. «Ich wäre froh, wenn ihr den Kurs auch in euren Stunden vorstellen würdet, jede von euch hat doch einen oder zwei verlorene Kerle in ihren Klassen, die sich in einem männlichen environment deutlich wohler fühlen würden.»
«Nevada, deine Stunde am Montagabend ist zu klein geworden für den großen Saal. Du tauschst den slot mit Sebastian und unterrichtest beide Stunden, nicht nur die Anfängerklasse, im kleinen Studio.»
Das war keine Frage. Das war ein Befehl.
«Gion Camenisch war letzte Woche in meiner Stunde», sagte Nevada und hasste sich dafür. «Seine Frau kommt schon länger zu mir. Wenn sich das herumspricht, ist die Klasse sicher bald von Groupies überlaufen.» Sie hatte versucht, ihm unvoreingenommen zu begegnen. Sie war immer stolz darauf gewesen, dass sie sich von großen Namen nicht beeindrucken ließ. Willem Dafoe hatte in New York einmal zu ihr gesagt: «Bei dir kann ich einfach mich selber sein.» Sie hatte ihn behandelt wie jeden anderen Schüler auch.
Warum konnte sie Gion nicht dieselbe Höflichkeit entgegenbringen? Weil Marie zuerst ihre Schülerin gewesen war. Sie hatte gesehen, wie verändert Marie in seiner Gegenwart war, wie verkrampft.
«Äh, sorry, Nevada!» Nadine schaute von ihrer Tabelle auf. «Gion Camenisch hat zu Sebastian gewechselt. Eben weil ihm die Frauen zu sehr auf die Pelle gerückt sind bei dir.»
«So etwas sollte eine erfahrene Lehrerin eigentlich auffangen können», sagte Lakshmi. Dann wandte sich das Gespräch der bevorstehenden Yogakonferenz in Köln zu. Wer war eingeladen, wer würde teilnehmen? Die Stimmen umspielten Nevada wie Wellen. Das Wasser in ihrer Tasse wurde kalt.
Plötzlich wusste sie, wie sich die Menschen im Mittelalter gefühlt haben mussten, wenn sie sich vorstellten, sie würden von der Kante der Welt geschubst, sie würden ins Leere fallen, sich im Nichts auflösen.
Ted
«Ist das alles?», fragte Ted und zeigte auf die Koffer, die Taschen, den Käfig mit den Meerschweinchen, die überquellenden blauen Ikea-Einkaufstaschen voller Stofftiere, Gummistiefel, Skijacken. Es war noch nicht einmal richtig Sommer geworden, die Sonne versteckte sich immer noch über dem Hochnebel.
«Nein», sagte Tina und ging noch einmal zum Auto zurück. Die Rücksitze waren heruntergeklappt, die ganze Ladefläche war voller Taschen, Papiertüten mit Büchern, und Ted erinnerte sich wieder an das, was seinen Prinzessinnen gemeinsam war: Sie hatten keinen Sinn für Ironie. Kinder auch nicht, das war eine allgemein akzeptierte
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