Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
eine Hand in die Tasche seiner Lederjacke und zog eine Tablettenschachtel hervor. «Sind das die Tabletten, die du vermisst?»
Marie nickte.
«Die hab ich heute Morgen eingesteckt. Weil ich nicht wollte, dass Stefanie Zugang zu so was hat. Weißt du eigentlich, was da drin ist? Hast du die Packungsbeilage gelesen? Diese Dinger sind in höchstem Maße suchterzeugend. Nichts, was man in Reichweite von Teenagern aufbewahrt!»
«Warum hast du nichts gesagt, ich hätte sie doch weggeräumt!»
«Weil du nie da bist. Weil wir dich nicht sehen. Nun, du entschuldigst mich bitte, ich muss nach meiner Tochter sehen.»
Es war alles falsch. Es war alles nicht so, wie es sein sollte. Sie waren doch eben noch so glücklich gewesen. Hatte man ihr das nicht versprochen? Wenn du es geschafft hast, hast du es geschafft. Wenn du einmal glücklich bist, wirst du es auch bleiben. Wenn du den Richtigen gefunden hast, kann es nicht mehr falsch kommen. Und sie hatte das geglaubt.
Sie war die glücklichste Frau der Schweiz gewesen, und kaum zwei Jahre später eine der unglücklicheren. Warum hatte sie niemand darauf vorbereitet? Warum hatte sie es nicht verhindern können?
Nichts bleibt, dachte Marie und machte eine neue Flasche Wein auf, voller Trotz. Der Kopfschmerz war wieder da, sie spülte zwei Tabletten mit einem Schluck Rotwein hinunter, morgen würde sie etwas gegen den Kater nehmen. Sie war schließlich Ärztin. Alles ließ sich reparieren. Auch das.
svarasav mā h ī vidu ṣ o’pi sam ā r ūḍ ho’bhinive ś a ḥ
Die Angst vor dem Tod ist einfach da und lässt
sich auch durch Erkenntnis nicht immer
in Schach halten.
Patanjali Yoga Sutra 2 . 9
Poppy
Heimliche Treffen, verschlüsselte Nachrichten, kurzfristige Absagen, eine neue Telefonnummer, nur für sie, und doch antwortete manchmal eine Frauenstimme. «Hello?» , sagte sie, immer wieder «Hello?» , misstrauisch und lauschend. Zwei Telefone, die er aus seinen Jackentaschen nahm und nebeneinander auf die Ablage über ihrem Bett legte. Eins, dessen Nummer nur sie kannte. Das andere klingelte zuverlässig jedes Mal, wenn sie sich liebten, und jedes Mal, wenn es klingelte, nahm er das Telefon ab. Manchmal stand er dann auf und ging ins Badezimmer. Er schloss die Türe hinter sich, als könnte sie ihn nicht hören, als seien die Wände nicht aus Gips. Sie hörte seine Stimme, leise, beruhigend, schuldbewusst auch, als spreche er mit einem kranken Kind. Wenigstens redet er nicht in diesem Ton mit mir, dachte sie dann.
Ein ungenügender Trost. Er entschuldigte sich jedes Mal, wenn er zurückkam. In ihr Bett.
«Warum», fragte sie, «warum …?» Sagst du es ihr nicht, verlässt du sie nicht, schickst du sie nicht zurück nach Amerika.
«Sie ist meinetwegen in dieses fremde Land gezogen. Sie kennt hier niemanden. Sie ist ganz allein.»
«Sie könnte doch nach Amerika zurückgehen», sagte Poppy. «Amerika ist groß, es wird sie verschlucken mit Haut und Haar und nie wieder ausspucken.» Er schaute verletzt. Seit sie miteinander schliefen, hatte er sich nie mehr über Kim beklagt, kein schlechtes Wort mehr über sie gesagt. Poppy wünschte sich, er würde es tun.
Vor ein paar Tagen waren sie die Straße entlanggegangen, als ihnen eine Frau mit zwei Einkaufstüten entgegenkam. Wolf ließ ihre Hand los und duckte sich hinter einen Plakatständer. Poppy ging weiter, als sei nichts passiert, als sei sie allein unterwegs. Sie schluckte. Ihr würde doch jetzt nicht übel werden? Sie würde einfach weitergehen, sie würde die Yogastunde besuchen, wie sie es vorgesehen hatte, sie hatte sogar ihre Matte dabei.
«Poppy! Poppy, so warte doch!» Sie blieb stehen. Warum blieb sie stehen? Sie drehte sich um. Wolf lief hinter ihr her, seine Brille war verrutscht, sein Haar klebte schweißnass an seiner Stirn. Seine Füße schlenkerten beim Laufen nach außen. Er sah aus wie ein Idiot. Sie blieb stehen und wartete, bis er sie eingeholt hatte.
«Entschuldige bitte.»
«Wer war das?»
«Eine Nachbarin. Ich glaube, sie hat mich nicht gesehen. Aber sie ging so langsam weiter, es dauerte ewig, bis sie außer Sichtweite war. Ich frage mich nur, was sie ausgerechnet hier macht?»
«Vielleicht betrügt sie ihren Mann», sagte Poppy. Sie ging weiter. Wolf suchte ihre Hand. Sie gab sie ihm nicht.
Sie wünschte, sie wäre nach ihrem ersten Treffen aufgestanden und die Treppe zum Yogastudio hinaufgegangen. Statt noch mit ihm spazieren zu gehen, den Fluss entlang, sie hatte
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