Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
ihr Rad geschoben, er hatte eine Hand auf ihren Rücken gelegt, als wollte er sie schieben. So waren sie zu ihr nach Hause gegangen, ohne dass sie ein Wort darüber verloren hätten. Sie hatte ihr Rad in den Hauseingang gestellt, sie waren mit dem Lift in den dritten Stock hinaufgefahren, noch ohne sich zu küssen. Erst als sie die Tür geschlossen hatten, nahmen sie sich in die Arme. Feierlich fast. Und mit offenen Augen.
Es war ihr unausweichlich erschienen. Jetzt wünschte sie, es wäre nicht passiert. Sie könnten im Café sitzen und sich an den Händen halten, sich voller Verlangen in die Augen schauen, tief fallen, tief und doch nicht aufschlagen. Nie den Grund erreichen. Sie hätten nie nachgeben dürfen. Das Verlangen war schmutzig geworden, er hasste sich dafür, dass er ihm erlegen war. Und bald würde er sie dafür verantwortlich machen.
Poppy wollte ein guter Mensch sein. Sie wollte keinen Schaden anrichten. Und doch tat sie es immer wieder, ohne es zu wollen, aus Ungeschicklichkeit, Unachtsamkeit. All die Jahre, all die Yogastunden, und immer noch war es ihr größter Fehler: Unaufmerksamkeit.
Sie dachte nicht nach. Sie brauchte ihren Kopf nicht. Meist wusste sie nicht einmal, wo er war. Und dennoch.
«Du und ich, das ist einfach richtig, das ist immer schon richtig gewesen.»
«Ich weiß.» Er sagte es traurig. Resigniert und, so meinte Poppy zu hören, mit einem gewissen Vorwurf. Er war berechtigt. Sie war es schließlich, die nicht erkannt hatte, was sie beide verband. Die wahre Liebe. Die einzige. Sie hatte ihn weggeschubst, hatte sich aus seinen Armen befreit, hatte sich weitertreiben lassen, immer auf der Suche nach etwas, das sie längst hatte. Gehabt hatte. Verloren hatte.
«Bei dir bin ich zu Hause», sagte sie und legte sich in seinen Armen zurecht, sie nahm seine Hände und legte seine Arme genau so um ihren Körper herum, wie sie es mochte. Diese Arme waren dafür gemacht, sie zu halten. Er seufzte, er hielt sie fester. Er küsste sie.
Er schloss die Augen. Poppy starrte seine geschlossenen Lider an, als könnte sie sie aufzwingen. Lauf mir nicht davon, wollte sie sagen, verlass mich nicht, bleib bei mir. Mach deine Augen auf. Schau mich an. Schau mich an. Schau mich an. Als existiere sie nur in seinem Blick. Schließlich gab sie auf, legte sich auf den Rücken, starrte an die Decke.
Er wird seine Frau verlassen. Wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind … die Enkel … Das alles kannte man aus einschlägigen Filmen, aus Liedern und aus der Literatur. Es war immer dasselbe. Sie sagten alle dasselbe. Nie wieder, hatte sie sich geschworen.
Aber mit Wolf war es etwas anderes. Sie liebten sich wirklich. Außerdem hatte er gar keine Kinder. Und vor allem: Sie war zuerst da gewesen. Er betrog sie mit seiner Frau. Genau so fühlte sich das an. Poppy konnte nicht anders, sie musste fragen: «Was, wenn ich damals nicht gegangen wäre?»
«Dann hätten wir geheiratet», sagte Wolf ernst. «Alle unsere Freunde hätten uns ausgelacht, damals heiratete man nicht, es war uncool. Wir hätten es trotzdem getan. Oder gerade.»
Damals hatten sie nicht an die Ehe geglaubt, an diese verstaubte bürgerliche Einrichtung. Stattdessen hatten sie an die Liebe geglaubt, als eine Macht, die jede Konvention überwindet. Die alles erklärte. Und so hatte sich Poppy in jemand anderen verliebt, und dann in jemand anderen und wieder anderen und immer so weiter.
Ich habe mich verliebt. Ich liebe ihn. So wie mit ihm war es noch nie, so habe ich mich noch nie gefühlt, das muss die wahre Liebe sein. Am Ende war es eine endlose Wiederholung derselben Atemlosigkeit, die nichts anderes mehr zuließ. Keinen Zweifel, keinen Gedanken.
Citta vrtti nirodah, dachte Poppy plötzlich, was hieß das noch gleich? Nevada sang es oft zu Beginn der Stunde: Atha Yoga nusasanam, yogash citta vrtti nirodah. Dies ist nun der Beginn der Lehre von Yoga. Yoga ist der Zustand, in dem die Wellenbewegungen des Geistes verebben.
Das war es, was Poppy immer gesucht hatte. Diese Stille. Dieses Innehalten. Dieses Verstummen der sieben parallel laufenden Tonspuren in ihrem Kopf, von denen die Hälfte sie auch noch ständig beschimpfte. Verliebtheit wirkte. Verliebtheit schaltete, für ein paar Wochen – wenn sie Glück hatte, für ein paar Monate – alles andere aus. Es gab nur noch eine Stimme in ihrem Kopf, und die sagte: Ich will ihn. Wann sehe ich ihn wieder, warum hat er nicht angerufen. Es gab nur ihn. Der immer ein anderer
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