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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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habe sehr wohl Ahnung. Du bist noch im Wachstum. Du gehst zur Schule. Du brauchst Nährstoffe, um funktionieren zu können, dein Hirn braucht sie.»
    «Dass Anas immer die besten Noten haben, hast du wohl noch nie gehört? Lernt man das nicht im Medizinstudium?»
    «Anas – Anorektikerinnen?», fragte Marie nach. «Stefanie, willst du damit sagen, dass du das sein willst?»
    Stefanie zuckte mit den Schultern. Sie hatte ihr Handy aus den Kissen hervorgefischt und bearbeitete es mit beiden Daumen. Sie lachte leise. Marie wartete. Schließlich schaute das Mädchen wieder auf.
    «Was? Was ist?»
    «Bist du Anorektikerin?»
    «Und wenn?»
    «Stefanie, das ist eine ernste Sache. Eine kaum heilbare Krankheit, die sehr oft tödlich verläuft.»
    «Ist das deine Ausrede?» Wieder dieser Blick.
    «Stefanie …» Marie wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Irgendwo in diesem Wesen, in diesem zukünftigen Glamourmodel, steckte das ernsthafte kleine Mädchen, das an einem Nachmittag die lateinischen Namen aller Knochen der menschlichen Hand auswendig gelernt hatte. Marie schaltete den Fernseher wieder ein und ging dann in die Küche. Dort stand noch das schmutzige Geschirr vom vergangenen Abend und das vom heutigen Morgen. Im Kühlschrank fand sie eine angebrochene Flasche Milch. Im Abwaschbecken stand eine verkrustete Plastikschale mit den Resten einer Fertiglasagne. Ein Löffel klebte darin. Immerhin: Stefanie hatte gegessen.
    Hat sie danach gekotzt?, fragte sich Marie sofort und schob den Gedanken weg. Für heute war es genug. Sie schaute auf das schmutzige Geschirr. Sie wollte sich einen Ruck geben, aufräumen, abwaschen, Platz schaffen. Die saure Milch wegschütten. Doch sie stellte die Flasche zurück in den Kühlschrank und ging ins Bad. Sie trat in eine Wasserlache. Ihre Strümpfe wurden nass. Sie fluchte. Das Bad war übersät mit Stefanies Kosmetikartikeln – Produkte für unreine Haut, für fettiges Haar, Orangenhaut, lauter Dinge, die Stefanie gar nicht hatte. Marie fragte sich, was Stefanie sah, wenn sie in den Spiegel schaute. Vor kurzem hatte sie eine Studie über Dismorphobie gelesen. Die meisten jungen Frauen waren in irgendeiner Form davon betroffen. Nur acht Prozent der elf- bis vierzehnjährigen Mädchen waren mit ihrem Aussehen zufrieden. Acht von hundert. Seit sie Stefanie – was, hatte? kannte?, verfolgte Marie solche Studien mit zunehmender Besorgnis. Als Mädchen aufzuwachsen war nicht nur schwierig, es war geradezu gefährlich. Bei sich selbst konnte Marie sich nicht daran erinnern. Sie hatte immer gewusst, was sie wollte. Und was sie bekommen konnte. Sie schaute in den Spiegel. Unter ihren Augen hatten sich Falten gebildet und dunkle Schatten. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. Ihre bräunliche Haut wirkte gelb. Sie wurde oft gefragt, ob sie indische Vorfahren habe, indisches Blut irgendwo in der Verwandtschaft. «Du siehst aus wie eine orientalische Prinzessin», hatte Gion einmal zu ihr gesagt, «wie aus einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht.»
    Marie würde ein Oxycontin nehmen oder zwei. Sie öffnete den Toilettenschrank. Die Medikamentenpackung war weg. Marie durchstöberte den Schrank, obwohl sie wusste, dass die Schmerztabletten weg waren, in ihrem Spiegelschrank herrschte Ordnung, ihre wenigen, im Supermarkt gekauften Kosmetikprodukte standen im obersten Fach, ein Maniküreset in einem Lederetui. Die drei unteren Fächer wurden von Gions Rasierzeug, Kosmetikartikeln und einer wachsenden Sammlung ayurvedischer Heilmittel, Vitaminpräparaten, Nahrungszusätzen eingenommen. Ihr Spiegelschrank war eine Studie in Vorurteilen. Und ihre Schmerztabletten waren weg.
    Marie ging zurück ins Wohnzimmer. Auf dem Bildschirm stritten sich die sehr dicken Mitglieder einer Familie um einen Hund. Wer mit ihm spazieren gehen solle. Eine dünne Frau regte an, Spazierengehen als Teil des Fitnessprogramms zu verstehen. Marie schaute eine Weile lang zu. Stefanie schien sie nicht zu bemerken. Sie hielt ihren Laptop aufgeklappt auf dem Schoß. Um die nackten Beine hatte sie eine Wolldecke gewickelt. Abwechselnd blickte sie auf den Computerbildschirm und auf den Fernseher. Ihr Rücken war gebeugt. Sie wirkte sehr dünn. Klein. Wie ein Kind.
    «Hast du meine Kopfwehtabletten genommen?»
    «Ich?»
    «Ich hatte eine Schachtel Schmerzmittel im Spiegelschrank. Sie ist weg.»
    «Und ich soll sie genommen haben?»
    «Es sind rezeptpflichtige Tabletten. Man sollte sie nicht unkontrolliert einnehmen. Sie haben

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