Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
betreffenden Sutra. Ernsthaftes, regelmäßiges Üben, ohne ein bestimmtes Ergebnis davon zu erwarten. Diesen zweiten Teil hatte Nevada bisher außer Acht gelassen. Jetzt fragte sie sich plötzlich, ob er nicht der wichtigere war. Sie lehnte sich zurück und spürte statt der harten Lehne des Holzstuhls immer noch diese große Hand.
Ted
Sitzen bleiben, weiteratmen. Warum fiel ihm das jetzt ein? Nevada hatte gesagt: «Yoga heißt, in einer unangenehmen Situation, wie zum Beispiel in dieser Asana , ausharren zu können. Einfach sitzen zu bleiben und weiterzuatmen.»
In einer unangenehmen Situation wie dieser. Lilly hatte eine Rolle Krepppapier aus der Küche geholt, von Emma genau beobachtet. Warum kennt sich diese fremde Frau in Papas Küche so gut aus?, stand sichtbar auf ihrer gefurchten Stirn geschrieben.
Lilly hatte drei Blätter von der Rolle abgerissen und verteilt. Dann hatte sie mit ihrem Papier sorgfältig die Oberfläche des Pizzastücks abgetupft, das vor ihr auf dem Teller lag.
«Was machst du da?», hatte Emma gefragt.
«Wonach sieht es denn aus?» Triumphierend hielt Lilly das Papier hoch. Es war so fettdurchtränkt, dass es beinahe durchsichtig war. «Das hier», sagte Lilly. «Das hier will ich nicht in meinem Körper haben. Das ist reines Gift.»
Ted trocknete mit seinem Stück Papier seine Lippen ab und legte es dann zur Seite, als habe Lilly es ihm als Serviette gereicht, als läge nicht schon eine Papierserviette neben seinem Teller. Emma schaute von einem zum anderen und versuchte zu entscheiden, wem sie es nachtun sollte. Lilly wartete. Niemand aß.
Der Abend hatte so gut begonnen. Sie hatten Emmas Zimmer fertig eingerichtet. Ted hatte, als er nach der Trennung in diese Wohnung gezogen war, das größte Zimmer für Emma reserviert. Tobias hatte ihn deswegen ausgelacht. «Wie oft ist die Kleine bei dir, zweimal im Monat? Und wie groß ist sie überhaupt? Die würde doch in eine Schuhschachtel passen! Und du überlässt ihr das größte Zimmer, das mit dem Balkon, und ziehst dich in die Kammer zurück. Das ist doch krank.»
«Ich will, dass sie sich wohl fühlt. Dass sie weiß, dass sie bei mir ein Zuhause hat.»
«Hat sie doch gar nicht!»
Ich will, dass ihr Zimmer schon bereit ist, hatte er oft gedacht, aber nie ausgesprochen. Und jetzt war es so weit. Das Zimmer war groß genug, um Emmas beide Leben fassen zu können, ihr Zimmer in Tinas Wohnung passte in dieses Zimmer mit hinein. Die rosaroten Stühle unters Fenster, der zweite kleine Schreibtisch neben den Schrank, in den alle Kleider passten, auch die Skiausrüstung, die Mäntel und die drei Tutus, die Emma früher manchmal im Kindergarten getragen hatte. Jetzt trug sie sie nur noch zu Hause, beim Spiel. Die Bücher hatten Platz, die Puppen, die Plüschtiere, der Meerschweinchenkäfig. Das Zimmer akzeptierte die rosaroten Plastikmöbel neben den Holzsachen, die Ted gekauft hatte, den verschnörkelten Schminktisch mit dem kleinen Spiegel neben dem schlichten hölzernen Schülerpult im Quäkerstil.
Die ganze letzte Woche waren sie damit beschäftigt gewesen, eine Art Alltag herzustellen. Sie standen früh auf, fuhren mit dem Fahrrad zur Schule, Emma verbotenerweise auf dem Trottoir, Ted neben ihr. Emma war bereits beim Mittagstisch und Nachmittagshort angemeldet, und Ted holte sie ab, sobald sein Unterricht beendet war. Dann fuhren sie nach Hause, machten beide ihre Schulaufgaben. Emma füllte Blätter aus, Ted korrigierte dieselben Blätter, von seinen Schülern ausgefüllt. Nicht ganz dieselben natürlich. Er unterrichtete schließlich Viertklässler, Emma war in der ersten. Später bestellten sie Pizza. Jeden Abend Pizza. Emma schien die Routine zu brauchen. Sicherheit vor Gesundheit, entschied Ted. Aber wenn Lilly zum Essen kam, würde es etwas Besonderes geben. Etwas Gesundes. Nacht für Nacht hatten sie telefoniert, sobald Emma eingeschlafen war. Lilly zupfte an den Rändern seines Herzens wie an Gitarrensaiten, entlockte ihnen ein jämmerliches Jaulen. Sie hatte alles versucht, um ihn aus dem Haus zu locken. Alles versprochen. Doch er würde Emma nicht alleine lassen.
«Es gibt doch so was wie Babysitter.»
«Nicht der richtige Zeitpunkt.» Er biss sich auf die Zunge, nachdem er das gesagt hatte. Sie legte auf und nahm achtzehn Stunden lang das Telefon nicht mehr ab. Er lud sie zum Essen ein, er wollte, dass sie Emma kennenlernte, sie legte sich bis zum letzten Moment nicht fest. Und als es an der Tür klingelte,
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