Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
tiefrosa Sirup breitete sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit aus und tränkte das Tischtuch.
«Florian!», rief Marianne, und der Bub duckte sich unter den Tisch.
Es wurde still. Alle schauten Poppy an.
«Nimmst du noch einen Schluck?», fragte Herbert.
Sie hatte ihr Glas schon in seine Richtung geschoben. «Gerne.»
Marianne hatte Florian getröstet, eine Serviette über das Tischtuch gelegt, das Gespräch ging weiter. Später hatten sowohl Marianne wie auch die an diesem Sonntag anwesenden Schwägerinnen Poppy besorgt gefragt, ob zu Hause alles in Ordnung sei. Ob sie überfordert sei.
«Soll ich die Buben mal übers Wochenende nehmen?», fragte Silvia, die Ältere, eine Anwältin. Sämtliche Schwägerinnen waren, wie Marianne, beruflich erfolgreich und zogen vier oder fünf Kinder ohne fremde Hilfe auf. «Damit ihr mal Zeit für euch habt, du und Peter?»
Erst als Susanne, die Frau von Peters jüngstem Bruder und Psychologin, ihr die Nummer vom Elternnotruf zusteckte, wurde Poppy klar, was alle dachten: Dass sie ihre Kinder schlug. Dass Florian in Erwartung einer Ohrfeige unter den Tisch getaucht war.
«Oh, nein, nein, nein!», rief sie. «Das ist es nicht. Er schämt sich. Deshalb versteckt er sich. Das tut er immer, wenn ihm so etwas passiert!»
«Hm.»
«Wirklich, ich schlage meine Kinder nicht!»
«Nur, wenn dir die Hand ausrutscht, Mama, gell!» Das war Lukas, der Kleine, er versuchte zu helfen, er umschlang ihr Bein und schmiegte sich an sie. «Wie damals im Laden, weißt du noch, Mama?»
«Das war …» Poppy schaute sich hilfesuchend um. Peter, der am anderen Tischende saß, schüttelte den Kopf. Herbert goss den letzten Tropfen aus der Flasche in sein eigenes Glas.
«Mama hat geweint!», verkündete Lukas fröhlich, tätschelte Poppys Bein und hüpfte davon.
«Du benimmst dich wie ein Kind, das Angst vor einer Ohrfeige hat», sagte Poppy jetzt zu Wolf. Ihr Ton war scharf. Sie konnte es selber hören. «Entschuldige, so habe ich es nicht gemeint.»
Da war etwas in den Linien um seinen Mund. Sie kannte ihn so gut. Sie streckte wieder ihre Hand aus, langsam diesmal, er rührte sich nicht. Er ließ zu, dass sie ihm die Brille abnahm. Über der linken Augenbraue hatte er eine blutverkrustete Wunde, die Haut um das Auge herum war gelb und grün verfärbt. Poppy legte die Sonnenbrille auf den Tisch.
«Was ist passiert?»
«Nichts.»
«Offensichtlich.»
Poppy stand auf und ging zur Theke. Sie bestellte zwei Gläser Rotwein, Käse, Brot. Als sie alles auf den Tisch stellte, hatte Wolf seinen Mantel ausgezogen. Als habe er vor, noch eine Weile hier sitzen zu bleiben.
«Sag jetzt nicht, du seist in eine Tür gelaufen», bat sie.
«Wir hatten Streit, Kim und ich.»
Meinetwegen?, wollte sie fragen. «Und sie hat dich geschlagen?»
«Sie hat einen Teller nach mir geworfen.» Er hob die Hand und betastete die Kruste. «Diese Amerikanerinnen, weißt du, die lernen Bälle zu werfen, bevor sie laufen können!»
«Das ist nicht lustig.»
Lukas hatte vorn im Einkaufswagen gesessen und wahllos Lebensmittel aus den Regalen gezerrt und in den Wagen geworfen. Nachdem sie zum dritten Mal eine Packung zuckerhaltiger Frühstücksflocken zurückgestellt hatte, hatte sie die Geduld verloren und den Wagen so gedreht, dass er die Regale mit seinen kurzen Ärmchen nicht mehr erreichen konnte. Lukas hatte angefangen zu weinen, mit weit aufgerissenem Mund und ungerührten Augen, die sie genau beobachteten. Als er damit nicht die gewünschte Reaktion erzielte, wurde er lauter und lauter, zog schließlich einen Gummistiefel aus und schleuderte ihn mit erstaunlicher Kraft in eine zu Werbezwecken kunstvoll aufgetürmte Pyramide von Flockenpackungen, die sofort effektvoll einstürzte. Die Packungen flogen gegen die Regale und schlitterten über den Boden, bis vor die Kasse. Menschen blieben stehen. Drehten sich um. Sie sah ihre Hand ausholen, durch die Luft fahren, gegen seine dicke Wange klatschen. Einen Moment lang stand alles still. Lukas hielt mitten im Ton inne, als hätte man auf einen Schalter gedrückt. Sein Mund stand noch offen, weinerlich verzogen, auf seiner kleinen Wange zeichneten sich ihre Finger ab, vier rote Abdrücke. Sie ging in die Knie, riss ihn aus dem Einkaufswagen und in die Arme.
«Oh, Schatz, es tut mir so leid!» Sie hatte ihn hochgehoben, hatte den Einkaufswagen stehen lassen und war aus dem Laden gestürmt. Wochenlang hatte sie nicht gewagt, in diesem Supermarkt einzukaufen.
«Worüber
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