Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
sich mit den Fingern durch die Haare, die damals rotgefärbt waren und kraus.
Peter hatte keine Minute. «Selber schuld», sagte er. Er würde allein mit dem Auto zum Bahnhof fahren, und Poppy würde es später dort abholen müssen, mit dem Bus würde sie ins Dorf hinunterfahren und das Auto holen – doch da fuhr Caro vor und verstellte Peter die Ausfahrt.
Und die ganze Sache flog auf.
«Du beschäftigst also zwei Putzfrauen», sagte Peter, als er am Abend aus der Stadt zurückkam – denn natürlich war er trotzdem zum Bahnhof gefahren, hatte seinen Zug noch knapp erwischt, war pünktlich zur Sitzung gekommen. Während Poppy zu Hause erst einmal eine Krise mit Caro durchstehen musste.
«Wie kannst du mich so hintergehen?», schrie Caro, die Poppy mit dem Scheuerpulver in der Hand erwischt hatte. «Weißt du überhaupt, was in dem Zeug drin ist? Reines Gift! Ich dachte, du denkst wie ich. Ich dachte, du hast mir zugehört, dir liegt auch etwas an der Umwelt. Ich kann nicht für jemanden arbeiten, der so anders denkt als ich. Das kann ich mit meinem politischen Gewissen nicht vereinbaren!» Caro war gegangen. Ohne zu putzen.
In derselben Woche kündigte auch Ruth. Ihr Sohn hatte ohne ihr Wissen Studienbeihilfe beantragt und auch bekommen. Sie musste also nicht mehr so viel arbeiten.
«Können Sie nicht eine andere Stelle aufgeben?», fragte Poppy verzweifelt. «Ich brauche Sie doch!»
«Nein», sagte Ruth. «Der Mensch braucht zwei freie Tage hintereinander, das ist nicht übertrieben. Das verstehen Sie halt nicht, für Sie ist jeder Tag ein freier Tag.»
Und Poppy war allein. Das war, wie sie aus ihren Fernsehserien wusste, ein klassischer Fall: Erst hatte man zwei Liebhaber, dann auf einen Schlag keinen mehr. Am nächsten Tag meldete sie Peter zur Paartherapie an, und acht Wochen später hatte sie auch keinen Mann mehr.
Nevada beugte sich vor. «Poppy, ich glaube, du solltest hier nicht so offen über deinen Fall sprechen», flüsterte sie.
Poppy schaute zu der Beamten hinüber, die immer noch Sudokus löste und sie nicht beachtete. Sie tat, als hörte sie ihnen nicht zu. Aber sie würde das Gespräch schon unterbrechen, bevor es eine unerlaubte Wendung nahm. Poppy zuckte mit den Schultern. «Affäre, Affäre – ich war zuerst da. Mich hat er zuerst geliebt. Aber ich habe Wolf verlassen, damals, und er hat Kim geheiratet. Und er war nicht glücklich mit ihr – weißt du was, Nevada? Sie hat ihn geschlagen. Einmal hatte er ein blaues Auge und eine Platzwunde auf der Stirn, und er wollte mir zuerst nicht sagen, was passiert ist. Das war schon meine Schuld: Wenn ich ihn damals nicht verlassen hätte, wäre er nicht nach Amerika gegangen, hätte er sie nicht geheiratet, hätte sie ihn nicht geschlagen. Sie war sehr unglücklich hier, sehr allein, weißt du, und er hat sie immer in Schutz genommen, er wollte sie nicht verlassen, sie ist ja seinetwegen in die Schweiz gezogen. Sie konnte hier nicht arbeiten und sie hatte keine Freunde, sie kannte niemanden, und die Sprache hat sie auch nicht gelernt, wie auch, jeder, von der Kioskverkäuferin zum Billettkontrolleur sprach englisch mit ihr. Wenn sie tränenblind gegen einen Baum gerannt ist, wenn sie ins Wasser gegangen ist, Nevada, dann ist das meine Schuld. Wenn sie sich aus reinem Trotz mit einem gewalttätigen Mann eingelassen hat, der sie im Streit erschlug, ist das meine Schuld. Ihr ganzes unglückliches Leben lässt sich auf mich zurückführen. Deshalb ist es ganz richtig so, es ist richtig, dass ich hier bin, und ich habe die Wahrheit gesagt, als ich sagte: Ich bin schuldig.»
Nevada schwieg einen Moment. Dann sagte sie: «Du nimmst dich aber ganz schön wichtig, Poppy!»
Poppy konnte an ihrem Gesicht sehen, dass sie Schmerzen litt, ihre Züge waren angespannt, vermutlich der harte Metallstuhl, dachte Poppy. Oder war es etwas anderes? War es Schmerz über Poppys Versagen? Ihre Krankheit?
«Nicht alles, was passiert, hat mit dir zu tun», sagte Nevada. Sie stand auf.
Die Wärterin blickte von ihrem Sudoku auf und schaute zur Uhr an der Wand. «Sie haben noch zehn Minuten», sagte sie.
«Wir sind fertig.»
«Sie müssen nicht miteinander reden. Die meisten genießen einfach die Zeit außerhalb ihrer Zelle. Bis zur letzten Minute.»
Nevada setzte sich wieder hin. So saßen sie einander gegenüber und schwiegen. Sie atmeten ein, und sie atmeten aus. Plötzlich zuckte Nevada zusammen.
«Das Wichtigste hätte ich ja beinahe vergessen», sagte sie.
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