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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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«Ich …» Sie machte eine Pause, in der sie Poppy in die Augen starrte. Als wollte sie sie zwingen, in ihrem Blick etwas zu lesen. «Ich» , wiederholte sie, seltsam betont, «ich habe dir einen Anwalt besorgt.»
    «Du?»
    Nevada verdrehte die Augen, und Poppy verstand. Wolf. Die Vollzugsangestellte schaute wieder zur Wanduhr hinauf, dann klappte sie ihr Rätselheft zu und stand auf. Mit einem Blick schickte sie Poppy wieder auf die gelben Fußabdrücke, wo sie mit dem Gesicht zur Wand stand, bis Nevada den Raum verlassen hatte. Auf dem Weg zurück zur Zelle trug sie Poppys Tasche.
     
Ted
     
    Die Sonnenstrahlen schienen schräg ins Klassenzimmer herein, als wollten sie nach den Kindern greifen. Die, die näher am Fenster saßen, blinzelten und hielten die Hände vor die Augen. Ted ging zum Fenster, um die Rollläden ein Stück weit herunterzulassen. Er hatte die Hand schon an der Kurbel, als er plötzlich innehielt. «Wisst ihr was?», sagte er. «Wir machen draußen weiter. Legt eure Bücher weg. Ihr braucht nur das Etui und das Realienheft.»
    Gebrüll brach aus. Ted klatschte in die Hände, bis die Kinder sich beruhigt hatten.
    «Sie! Sie! Sie, Herr Flubacher!» Arme wedelten durch die Luft. Buben. Die Mädchen wechselten bedeutungsvolle Blicke, schickten chiffrierte Botschaften quer durch das Schulzimmer, mit einem Achselzucken, einem Abwenden, einem Augenrollen. Ted dachte an Emma, in ihrem Schulzimmer am anderen Ende der Stadt. Er dachte an Lilly. Kein Wunder, dass er sie nicht verstand. Wie konnte ein Mann eine Frau verstehen? Die Mädchen übten von frühester Kindheit an, in einem komplizierten sozialen System zu bestehen. Sie knüpften Verbindungen, bildeten Hierarchien, stellten Regeln auf, die nur ihnen bekannt waren, und setzten sie wieder außer Kraft. In diesem System zu bestehen war für die Mädchen wichtiger als alles andere, auf jeden Fall wichtiger als die Schule. Ted erinnerte sich an eine Weiterbildung zum Thema Mädchenmobbing und mobbende Mädchen . Die sozialen Strukturen innerhalb einer Mädchengruppe seien so komplex, hatte die Dozentin erklärt, sie zeugten von einem so tiefen und genauen Verständnis von sozialer Intrige als Grundlage der Macht, dass Politiker und Diplomaten von ihnen nur lernen könnten. Und Diktatoren, hatte Ted gedacht. Er wusste genau, was sie meinte. Schließlich war er unter Mädchen aufgewachsen. Oft hatten sie vergessen, dass er da war.
    Trotzdem durchschaute er nicht die Hälfte dessen, was sich zwischen seinen Schülerinnen abspielte. Es brodelte unter der Oberfläche, für Unbeteiligte nicht sichtbar, nur manchmal brach eine Ader auf, und ein Konflikt ergoss sich über das Klassenzimmer, den Pausenhof. Dann sah er genauso verdattert zu wie die Buben. Und genau wie die Buben wollte er sich abwenden, sich in seine eigene Welt zurückziehen, die so viel einfacher war.
    Ted schaute seine Klasse an und dachte an ein Foto, das er aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte. Es zeigte ein Klassenzimmer in Isfahan, im Iran. Die Buben saßen von den Mädchen getrennt und grinsten einfältig in die Kamera, feixten, während die Mädchen aufmerksam unter ihren Kopftüchern hervorblickten und ihre Arme in die Luft hielten. Sie wussten alle Antworten. Hier wie dort könnte ebenso gut ein Tuch quer durchs Zimmer gespannt sein, das die Buben von den Mädchen trennte. Sie lebten in komplett verschiedenen Welten, die sich höchstens am Rande berührten.
    «Ja, Lars?»
    «Sie, Herr Flubacher …» Lars hatte schon wieder vergessen, was er fragen wollte. Die Mädchen zischten. Lars lief rot an. «Was machen wir draußen?», platzte er heraus.
    «Das werdet ihr schon sehen. Macht euch lieber bereit. Ja, Felix?»
    «Ich muss aufs Klo.»
    «Gut, dann geh. Alle, die noch aufs Klo müssen – nein, nicht alle miteinander! Wer muss aufs Klo, Hände hoch – ihr alle? Mirko?»
    Mirko ließ verdattert seine Hand sinken, er hatte nicht gemerkt, dass er sie noch hochgehalten hatte. «Sie, Herr Flubacher, ich hab aber Asthma!», rief er dann.
    «Hast du deinen Spray dabei?»
    Mirko klopfte seine Hosentasche ab und förderte den Spray zutage.
    «Dann ist ja gut.»
    Es dauerte zwanzig Minuten, bis er die Klasse an der Türe versammelt und in Zweierreihe aufstellt hatte. Schon fragte er sich, ob das wirklich eine gute Idee war. Doch jetzt konnte er nicht mehr zurück. Er führte die Kolonne aus dem Schulhaus, über den Pausenplatz und in das nahe Wäldchen, in dem ein schmaler Bach floss.

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