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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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Man nannte es das Schulhaustobel, doch der Begriff war zu groß für das plätschernde Rinnsal. Ted blickte auf die Uhr. Sie würden bis zum Mittagsläuten hierbleiben. Er teilte die Klasse in Gruppen auf, ließ sie das Bächlein stauen, den steigenden Wasserspiegel messen, er ließ sie Blätter sammeln und bestimmen, Baumrinden auf dünnes Papier schraffieren. Er teilte Gruppen ein, mischte Mädchen mit Jungen und Freunde mit Feinden. Ein Mädchen quiekte, ihre Turnschuhe waren nass, ein paar Jungen rauften, einer saß schon auf dem sumpfigen Waldboden. Es dauerte eine Weile, bis sich alle ausgetobt hatten, doch dann wandten sie sich ihren Aufgaben zu, suchten große, runde Steine, scharten sich um einen Baum, bildeten eine Kette. Ted hockte sich oben am Hang, wo er die ganze Klasse im Blick hatte, auf die Fersen und nahm sein Notizbuch hervor. Schnell schrieb er ein paar Stichworte auf. Wie er die Gruppen zusammengesetzt, welche Aufgaben er wem gestellt hatte. Dann ließ er das Buch sinken.
    Die Kinder hatten sich verteilt. Sie arbeiteten konzentriert. Ab und zu hörte er Zwischenrufe, ein Lachen. Die Sonne schien durch die Bäume und warf ein friedliches grünes Licht auf die Szene, die Ted an seine eigene Kindheit erinnerte. Seit Emma bei ihm lebte, dachte er wieder öfter an seine eigene Kindheit. An das große alte Haus am Waldrand, die endlosen Nachmittage, die sie draußen verbracht hatten, eine wilde Horde, unbeaufsichtigt, schmutzig. Die Mädchen machten den Wald zum Indianerdorf, sie spannten Bettlaken zwischen Bäume und bauten so Zelte. Sie spielten Familie. Sie stahlen Maiskolben von den nahen Feldern und zermalmten sie zwischen großen Steinen. Sie zündeten Feuer an. Ted wurde von Zelt zu Zelt geschoben, um den Vater zu spielen, eine Rolle, von der keines der WG-Kinder eine klare Vorstellung hatte. Ted langweilte sich oft bei diesen Spielen, entfernte sich von der Bettlakensiedlung, verirrte sich im Wald. Manchmal wurden sie von einer Gruppe Buben aus dem Dorf angegriffen, sie rissen die Tücher herunter und zertrampelten die Feuerstelle. Doch die WG-Kinder gaben nicht kampflos auf. Sie stürzten sich mit Geheul auf die Eindringlinge, bewarfen sie mit Dreck, erschreckten sie mit Wörtern, die sie nicht kannten – «Haut ab, ihr emotional verkrüppelten Machomännchen!» –, und vertrieben sie. Einmal hatten sie ein Mädchen aus dem Dorf an einen Baum gefesselt. Sie waren singend um die Gefangene herumgetanzt, bis es ihnen langweilig wurde. Als es dunkel wurde, gingen sie nach Hause und ließen das fremde Mädchen im Wald zurück. Über dem Abendessen aus Vollreis mit Sojasauce vergaßen sie die ganze Episode. Erst als es dunkel wurde und die beunruhigten Eltern aus dem Dorf Alarm schlugen, erinnerten sie sich wieder. Man fand das Mädchen schlafend an den Baum gelehnt, der Strick, mit dem es angebunden war, hatte sich gelockert. Es hätte sich befreien können. Das Mädchen verriet nichts und niemanden, die Welt der Kinder existierte damals ganz für sich.
    Autonom, dachte Ted und grinste. Er versuchte sich vorzustellen, wie heute mit so einem Vorfall umgegangen würde. Es würden englische Wörter bemüht, bullying und Mean-Girl-Syndrom . Es würde Abklärungen, Untersuchungen, Informationsmaßnahmen und vielleicht Zeitungsberichte geben. Die betroffenen Mädchen würden aussortiert und neu eingeordnet. Sie wären für immer von diesem einen Erlebnis geprägt. Vielleicht waren das die Mädchen von damals auch. Was wusste er schon.
    Trotzdem – diese Freiheit. Später in der Wohnsiedlung: die Treffpunkte in den Treppenhäusern und Kellerabteilen. Der Heimweg nach dem Fußballtraining, im Dunkeln, der sich eine, zwei Stunden ausdehnen konnte. Die Kinder, die er unterrichtete, seine eigene Tochter hatten diese Freiheit nie erlebt. Sie waren nie ohne Aufsicht, nicht einmal jetzt.
    Er versuchte genau zuzuhören, wenn Emma ihm von der Schule erzählte. «Tara hat gesagt, wenn Laura auch kommt, dann kommt sie nicht mit, und dann hat Makimba das gehört und es Laura gesagt, und Laura hat geweint, und jetzt reden wir alle nicht mehr mit Makimba, weil Tara sagt, dass Makimba eine Tratschtante ist und …» Er versuchte zu hören, was sie nicht sagte.
    «Lakshmi sagt, sie kann mir die Stunden nicht anrechnen, die ich bei Nevada genommen habe, weil sie außerhalb des eigentlichen Teacher-Trainings stattfinden und nicht wirklich zum Curriculum gehören, aber Nadine hat dieselben Stunden besucht wie ich, und

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