Montana 04 - Vipernbrut
betrachtete das Schmuckstück. »Das ist definitiv ein Ohrstecker, Zungenstecker haben normalerweise eine ganz andere Größe. Die Wunde in der Zunge war noch nicht verheilt, das Loch zu klein. Alles deutet darauf hin, dass der Stecker unfachmännisch durchgestoßen wurde, ich habe mich bei einem Experten erkundigt. Ja, ich denke, dass das mein Ohrstecker ist. Aber ich bin mir sicher, dass nicht Gabe ihn gestohlen hat«, beeilte sie sich hinzuzufügen. »Ich habe ihn schon vermisst, bevor der Ohrring und das Medaillon verschwunden sind. Wenn das stimmt, müsste der Killer oder sein Komplize oder wer auch immer schon vorher bei mir eingebrochen sein.«
»Du meinst, bevor Gabriel Reeve in deinem Haus war?«
»Ja.«
»Was denkst du, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist?«
»Ich weiß, ich weiß, es klingt weit hergeholt.«
»Sogar ziemlich weit hergeholt.«
»Ja. Aber schließlich vermisse ich ja auch noch ein, zwei Ringe.«
»Ein, zwei?«, wiederholte Pescoli skeptisch.
»Ja, das habe ich doch schon mal erwähnt. Ich hatte sie seit Jahren nicht mehr getragen und dachte, sie seien beim Umzug verlorengegangen … Aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.« Sie drehte ihre Teetasse in den Händen, obwohl sie noch keinen einzigen Schluck daraus getrunken hatte. »Im Grunde bin ich mir wegen gar nichts mehr sicher.«
Tief unten in seiner Höhle machte er sich an die Arbeit. Eifrig. Akribisch. Voller Hingabe. Ungeachtet der Tatsache, dass er todmüde war. Aber was machte schon ein bisschen Schlafmangel? Für seine Kunst musste man eben leiden, das wusste er, deshalb würde er weitermachen, von seinen Reserven zehren. Nur willensschwache, unbedeutende Menschen gaben ihren körperlichen Bedürfnissen nach. Sein Geist würde über seinen Körper triumphieren.
Alles reine Willenssache, sagte er sich und arbeitete fieberhaft weiter. Er schwitzte, obwohl die Temperatur hier, in seiner unterirdischen Werkstatt, wie immer bei minus einem Grad Celsius lag.
Er lauschte einem seiner Lieblingsweihnachtslieder, das aus dem Radio tönte, und summte leise mit.
Stille Nacht, heilige Nacht.
Alles schläft, einsam wacht …
Wau! Wau! Wau!
Der verdammte Köter kläffte schon wieder, störte seine Konzentration, obwohl er sich gerade dem kniffligsten Teil seiner Skulptur widmete. Aufgebracht ließ er den Meißel sinken. Es war ein Fehler gewesen, den Hund mitzunehmen, doch die Gelegenheit hatte er sich nicht entgehen lassen wollen. Er war in das Haus dieser falschen Schlange von Polizistin eingebrochen, die nach außen hin immer so freundlich tat und dabei so arrogant war, ihn so von oben herab behandelt hatte, und hatte sich nach etwas Wertvollem umgesehen, etwas Persönlichem. Beim ersten Mal war das einfach gewesen, alles war glattgelaufen, selbst der Hund hatte ihn bloß aus seinem Gitterkorb beäugt, als er die Treppe nach oben in ihr Schlafzimmer hinaufgeeilt war. Dort war ihm ihr Duft in die Nase gestiegen, dasselbe Parfüm, das er an ihr gerochen hatte, als sie ihn vor Jahren im Supermarkt einfach stehen gelassen hatte. Diese Viper mit ihrer gespaltenen Zunge hatte so getan, als wäre er gar nicht da, als wäre er ein Nichts!
Ein Nichts! Was nahm sie sich heraus!
Doch er würde sie eines Besseren belehren. Sie auf ihren Platz verweisen.
Bald schon würde sie sein kleines Präsent in der Post finden. Er schmunzelte bei dem Gedanken, wie clever er gewesen war. Vor ein paar Tagen, noch bevor er angefangen hatte, Wasser über sein aktuelles Kunstwerk zu gießen, hatte er seinem Objekt liebevoll eine Kette um den Hals gelegt und das kleine Medaillon behutsam zwischen die Brüste gleiten lassen. Es war mühsam gewesen, die halb tote Frau aufzurichten und in die optimale Position zu bringen, schließlich sollte das Schmuckstück gut zu sehen sein. Er hatte beharrlich auf den richtigen Moment gewartet, bis sie ihre verständnislosen Augen in seine Richtung gedreht hatte, dann hatte er auf den Auslöser seiner Digitalkamera gedrückt.
Natürlich war das nicht so befriedigend wie seine eigentliche Arbeit, das nicht. Aber es würde diesem Miststück von Polizistin zu denken geben, wenn sie im Department ihre Post öffnete. Eine frühe Weihnachtskarte von einem anonymen Absender.
Oh, wie gerne würde er beobachten, wie sie reagierte!
Vielleicht sollte er es so einrichten, dass er im Department war, wenn die Post gebracht wurde … Er müsste sich nur einen plausiblen Vorwand einfallen lassen, eine Beschwerde über einen
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